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Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition)
Autoren: Manuela Reizel
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Handtuch hatte man ihn unter verschärfte Beobachtung gestellt, ihm einen Anstaltspsychologen verpasst, der Hafttauglichkeit bescheinigte. Das war lange her. Der Rest verschwamm im Einheitsgrau der Uniformen, die Tage glichen einander bis aufs Haar, einzige Abwechslung die kurzen Besuche von Judith, im letzten Jahr waren sie selten geworden. Wegen Nina, hatte sie gesagt. Er fragte sich, ob es etwas geändert hätte, wenn Nina seine Tochter gewesen wäre. Bald würde sie zur Schule gehen. Sie würde Fragen stellen …
    Das metallene Geräusch des Schlüssels in der Zellentür riss ihn abrupt aus seinen Gedanken.
    „Es ist so weit, Lamprecht! Auf geht’s – oder willst du noch ein Jahr dranhängen?“
    Während er dem Uniformierten durch die steingefliesten Gänge folgte, spürte er, wie seine Knie weich wurden. Die letzten Formalitäten wurden abgewickelt, die letzten Worte gewechselt, die letzten Papiere unterschrieben.
    „Montag, elf Uhr, beim Bewährungshelfer. Pünktlich.“
    Als er den schweren Mantel anzog, starrte ihn im Spiegel ein Mann an, der ihm fremd war. Hager, abgemagert, die Augen in tiefen Höhlen liegend. Alt. Er fröstelte.
    Dann, ohne weitere Vorwarnung, öffneten sich die Tore.
    Er trat auf die Straße hinaus, ging ein paar Schritte. Ohne sich noch einmal umzusehen, nahm er die bedrohliche Masse des gigantischen Klotzes aus Beton und Stahl in seinem Rücken wahr, die scheinwerfer- und kameragespickte Mauer, die glänzenden Metallgitter.
    Er beschleunigte seinen Schritt. Nach etwa einem Kilometer geriet er außer Atem, hielt inne, hob den Kopf und blickte in den wolkenverhangenen Januarhimmel.
    Zwanzig Minuten, nachdem er die Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim verlassen hatte, traf Thomas Lamprecht am Hauptbahnhof ein. Zielstrebig steuerte er eines der wenigen verbliebenen Münztelefone in der zugigen Halle an, exotische Relikte, die sich aus der Vergangenheit ins Handyzeitalter hinübergerettet hatten, doch mit unbestreitbaren Vorteilen. Das zweite Blechgehäuse, in das er ein paar Münzen gleiten ließ, funktionierte, und er führte drei knappe Gespräche. Das erste mit seinem Anwalt, das zweite mit Barranquilla und das dritte mit Judith.
    Danach genehmigte er sich am gegenüberliegenden Kiosk ein paar Kurze. Während der Alkohol brennend durch seine Kehle rann und eine wohltuende Wärme durch seine Glieder schickte, betrachtete er seine Situation. Plötzlich war der Moment da, den er eintausendsiebenundneunzig endlose Tage und Nächte herbeigesehnt hatte, und nun schien er nicht so recht zu wissen, was er damit anfangen sollte. Vielleicht war es auch zu viel verlangt, nach eintausendsiebenundneunzig Tagen völliger Fremdbestimmtheit von einem Moment auf den anderen wieder sinnvolle eigenständige Entscheidungen zu treffen. Er dachte an Judith. Es sei okay, wenn er käme, hatte sie gesagt. Doch was genau hieß das eigentlich? Wollte sie ihn überhaupt noch? Und er selbst, was wollte er eigentlich? Unvermittelt schossen Erinnerungsfetzen hoch, und er fürchtete einen Augenblick, sich übergeben zu müssen. Er stand im Wasserdampfnebel, die Beine gespreizt, mit den Händen an eine gekachelte Wand gestützt, während der Schmerz ihn unbarmherzig durchzuckte, seinen Körper in zwei Teile zertrennte, er biss sich in den Arm, um nicht aufzuschreien.
    Die Abdrücke seiner Zähne waren noch immer sichtbar. Allen Neuen erging es so, und irgendwann hatte es aufgehört. Er hatte Glück gehabt, manchmal blieb nach dem Duschen einer am Boden zurück und stand nicht mehr auf. Glück? Wie man’s nimmt. Er fragte sich, ob er jemals wieder in der Lage sein würde … Ein starkes Gefühl stieg in ihm auf, eine Mischung aus Hass, Verlangen, Wut und Verzweiflung. Judith war zu Hause und wartete auf ihn. Sie würde warten müssen. Wenn er jetzt zu ihr ginge, würde er ihr wehtun, und das war das Letzte, was er wollte. Endlich wollte er damit anfangen, alles richtig zu machen.
    Er nahm noch ein paar Kurze, und nach und nach wurde die Kälte erträglich. Irgendwann machte er sich, nachdem er ein großzügiges Trinkgeld zurückgelassen hatte, auf den Weg zum Marktplatz.
    Sein Ziel war ein dreifarbiges Haus.
    Dr. Gustav Elvert zwang sich dazu, ruhig und gleichmäßig durchzuatmen. In seinen nunmehr fünfzehn Berufsjahren als niedergelassener Psychotherapeut war es ihm nicht oft passiert, dass ihm eine Sitzung entglitt. Doch genau das drohte momentan zu geschehen. Seit exakt fünfunddreißig Minuten torpedierte
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