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Der König von Havanna

Der König von Havanna

Titel: Der König von Havanna
Autoren: Pedro Juan Gutiérrez
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er seiner Mutter gegenüber empfunden hatte. Schmerz und Panik überwältigten ihn.
    »Gütige Mutter Gottes! Was ist passiert? Was habe ich getan?«
    Er umfasste seine Mutter und versuchte sie hochzuheben, aber es gelang ihm nicht. Ihr Nacken hing wie festgenagelt an dem Stahlstift.
    »Ich habe sie umgebracht! Ich habe sie umgebracht!«
    Wie ein Irrer schreiend, rannte er zum Geländer der Dachterrasse und stürzte sich hinunter auf die Straße. Er spürte nicht, wie sein Schädel vier Stockwerke tiefer beim Aufschlag auf dem Asphalt zerschmettert wurde.
    Genau wie seine Mutter starb er mit dem erloschenen Ausdruck von Krampf und Entsetzen.
    Das Großmütterchen sah alles reglos mit an, rührte sich nicht von ihrer vermoderten Holzkiste. Ohne jede Bewegung schloss sie die Augen. Sie wollte nicht mehr leben. Das alles war zu viel. Ihr blieb das Herz stehen, und sie sackte zurück gegen die Wand, kaltblütig wie eine Mumie.
    Rey war nicht aus seinem Versteck hinter dem Hühnerstall gekommen. Alles war sehr schnell gegangen, und sein Schwanz war immer noch knüppelhart. Um ihn unter Kontrolle zu haben und damit die Hose nicht ausbeulte, klemmte er ihn, so gut er konnte, zwischen die Oberschenkel, bis er sich von allein wieder gesenkt hatte. Stumm verharrte er. Dann ging er zur Brüstung der Dachterrasse und sah hinunter. Da lag sein Bruder zerschmettert mitten auf der Straße, umringt von Polizei und Schaulustigen, der Verkehr auf der San Lázaro in beiden Richtungen gestoppt.
    Einen Moment später kamen die Polizisten herauf aufs Dach. Sie waren ziemlich streitlustig.
    »Was ist hier passiert?«
    Rey vermochte keine Antwort zu geben. Er zuckte die Achseln und bedachte die Polizisten mit einem Lächeln. Den beiden Beamten blieb der Mund offen stehen.
    »Da lachst du noch? Was hast du getan? Los, sag schon, was hast du getan?«
    Er musste wieder ein bisschen lachen, sein Verstand war leer, aber schließlich brachte er doch heraus: »Nichts, gar nichts. Ich weiß nicht.«
    Sie legten ihm Handschellen an und nahmen ihn mit die Treppen hinunter. Sie ließen ihn in den Streifenwagen steigen und nahmen ihn ein paar Häuserblocks weiter mit aufs Revier. Dort sperrten sie ihn in eine Kellerzelle zu drei anderen Straftätern. Und da blieb er. Ohne an etwas zu denken, todmüde.
    Die Spurensicherer brauchten drei Stunden, um zur San Lázaro zu kommen. Den ganzen Nachmittag über arbeiteten sie peinlich genau. Um fünf Uhr nachmittags hoben sie Nelsons Leichnam vom Asphalt auf und brachten ihn zusammen mit dem der Großmutter ins Leichenschauhaus. Mit ihr hielten sie sich etwas länger auf. Es war schon dunkel, als sie beschlossen, sie von dem Stahlstift loszuhaken und ins Leichenschauhaus zu schicken. Es lag auf der Hand, dass jemand den Jungen brutal von der Dachterrasse und die Frau gegen den Hühnerstall gestoßen hatte. Das alte Mütterchen war einem Herzinfarkt erlegen, ohne jede Gewalt. Es gab nur keine Zeugen. Niemand hatte etwas gesehen. Immer dasselbe in dieser Gegend. Nie wollte jemand etwas gesehen haben. Nie gab es Zeugen.
    Drei Tage lang wurde Rey verhört. Er war wie betäubt und wiederholte ein ums andere Mal dasselbe: »Ich weiß nicht, ich habe nichts gesehen.«
    »Wo warst du? Was haben sie dir getan? Warum hast du sie umgebracht?«
    »Ich weiß nicht, ich habe nichts gesehen.«
    Rey war dreizehn. Man konnte ihn nicht vor Gericht stellen. Er kam in eine Besserungsanstalt außerhalb von Havanna. Immerhin war es dort sehr sauber, mit polierten Fußböden, und alle trugen makellose Uniformen. Er wurde von einem Arzt, einem Zahnarzt, einem Psychologen, einem betreuenden Polizisten und einem Professor untersucht. All diesen Leuten gegenüber gefror Rey zu Eis. Er verbarg all seine Gefühle und suchte systematisch nach einem Fluchtweg. Er ertrug diese Scheiße nicht, dauernd um Erlaubnis zu ersuchen, frühmorgens körperlicher Ertüchtigung nachzukommen und immer wieder in einer Aula zu sitzen und sich Dinge anzuhören, die er nicht verstand und auch nicht verstehen wollte. Nachdem er drei, vier Tage dort zugebracht hatte, zeigte ihm ein großer, kräftiger, zwei Jahre älterer Schwarzer unter der Dusche seinen Schwanz. Ein Riesendödel. Er trat an ihn heran und pumpte sich dabei mit der rechten Hand das Mordsviech.
    »Na, mein Kleiner, gefällt dir mein Biest? Du hast einen wirklich süßen Hintern.«
    Rey ließ ihn nicht weiterreden. Er versetzte ihm ein paar saubere Kinnhaken. Aber der schwarze Bock war eingeseift,
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