Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der König von Havanna

Der König von Havanna

Titel: Der König von Havanna
Autoren: Pedro Juan Gutiérrez
Vom Netzwerk:
zwei, drei Kügelchen, streiften die Vorhaut wieder über die Eichel und klebten ein Pflaster darüber, bis alles abgeheilt war. Täglich wurde die Wunde mit Alkohol desinfiziert. Sie benutzten ein Plastikmesser, angefertigt aus einer Zahnbürste. Nach einer Woche war alles fertig: verheilt oder infiziert. Alle, die auf die Krankenstation mussten, sagten, sie hätten es sich selbst gemacht.
    Man erzählte ihm Geschichten, wie die Frauen bei diesen Perlen schier durchdrehten.
    »Wenn man mit ihnen umzugehen weiß, geraten die Weiber in Ekstase, Kumpel«, erklärte ihm einer der Typen, die die Perlen einsetzten.
    »Wie viel nimmst du dafür?«, fragte Rey ihn.
    »Wie viele willst du haben?«
    »Zwei.«
    »Was hältst du davon? Du machst mir eine Tätowierung von Santa Bárbara auf den Rücken. Eine große, die den ganzen Rücken bedeckt. Und fertig.«
    »Okay. Du setzt mir erst die Perlen ein, und wenn alles verheilt ist, mach ich dir die Tätowierung.«
    Rey war ein schlanker Mulatte von normaler Statur, weder hässlich noch hübsch, und konnte sich nicht daran erinnern, jemals Fleisch gegessen zu haben. Nicht einmal vom Schwein. Falls er je davon gekostet hatte, dann höchstens, als er ganz klein war, und daran erinnerte er sich nicht. Trotzdem war er ziemlich gesund. Sie setzten ihm die Stahlkügelchen ein, die sie beharrlich »Perlen« nannten. Er vergoss nicht viel Blut. Um den Schmerz besser auszuhalten, nahm er einen Schluck Alkohol. Schon vier Tage darauf war die Wunde verheilt. Wenn er wieder entlassen wurde, konnte er den Weibern erzählen, er sei Seemann und man habe ihm die Perlen in China eingesetzt. Das sagten alle Knastis mit Perlen an der Eichel. Niemand erzählte, er habe im »Bau« gesessen. Niemand sagte die Wahrheit. »Auf dieser Welt sagt niemand die Wahrheit. Alles ist Lüge. Warum soll ich also die Wahrheit sagen? Nichts da. Seemann. Und Seeleute haben auch immer Geld in der Tasche, und die Weiber kleben an ihnen wie die Fliegen am Zucker«, dachte er.
    Alles Übrige in der Besserungsanstalt war langweilig. Von Zeit zu Zeit holte ihn der zuständige Betreuer in sein Büro und versuchte in Erfahrung zu bringen, was an jenem Morgen auf der Dachterrasse geschehen war.
    »Nun sag schon, was passiert ist. Hilf mir, deinen Fall aufzuklären.«
    Er brachte kein Wort heraus, konnte nicht. Jedes Mal, wenn sich die Geschehnisse jenes Tages endlich in seinem Kopf zu verwischen begannen, kam dieser Kerl mit seiner Litanei und wollte, dass er sich erinnerte.
    »Ich weiß es nicht, wirklich nicht.«
    »Was heißt hier, du weißt es nicht?«
    »Weil ich es nicht weiß.«
    Die Monate vergingen mit derselben Eintönigkeit wie immer. Drei Jahre waren um, und er war jetzt sechzehn. In aller Stille, ohne jeden Besuch. Er hatte niemanden. Wegen seines verbitterten und misstrauischen Wesens hatte er auch keine Freunde. Immer war er allein. Eines Tages erklärte die Anstaltsdirektion, die Orangenbäume seien nicht gut gepflegt. Die Arbeitsgruppen wurden neu organisiert. Der Gruppe mit den besten Resultaten stand ein Ausflug zum Strand in Aussicht. Ein Ausflug zum Strand? Wozu? Er konnte gar nicht schwimmen. Dieser Ausflug an den Strand war ihm schnuppe, und er machte im selben Rhythmus weiter wie vorher: war träge, machte nur, was unbedingt getan werden musste, tätowierte und rauchte einen Joint, wann immer er konnte. Eines Morgens wurden alle zusammengetrommelt, und man gratulierte der Gruppe, der Rey angehörte: Sie waren die Besten, und der Preis bestand darin, den Samstagabend in Guanabacoa zu verbringen. Ein echter Luxus. Im Kulturhaus sollte ein Salsa-Orchester auftreten. Der Gruppenführer bat um das Wort: »Der Preis war ein ganzer Tag am Strand. Das haben Sie gesagt.«
    »Nein. Ein anderes Mal.«
    »Verstanden. Bitte, mich setzen zu dürfen.«
    »Bitte.«
    Rey war beides egal. Er konnte nicht schwimmen, nicht tanzen, und er mochte weder Musik noch Wasser, also was soll’s. Dieser affige Trostpreis schlug ihm auf die Laune. Er würde mitgehen müssen, weil es Pflicht war, aber er würde sich in eine Ecke setzen und warten, bis diese ganze Scheiße vorüber war. Tagelang war er schlecht drauf. Am Samstag war er noch verdrossener als sonst, aber er wollte nicht um Erlaubnis bitten, in der Unterkunft bleiben zu dürfen, weil man ihm das ohnehin nicht gewähren würde, außer er hätte Durchfall oder vierzig Grad Fieber. Schweigend stieg er in den Bus. Vier Aufseher begleiteten sie. Sie kamen zum Kulturhaus.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher