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Der König der Diamanten

Der König der Diamanten

Titel: Der König der Diamanten
Autoren: Simon Tolkien
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ganz links oben, mit verstärktem Glas und innen mit Gitterstäben versehen. Hinter diesem Fenster saß Katya Osman an ihrem Schreibtisch und schrieb in ihr Tagebuch.
    Sie schrieb zur Seite hin und beugte sich dabei mit dem ganzen Körper über das Buch, als ob sie das Geschriebene verbergen wollte. Doch das geschah ganz offensichtlich aus Gewohnheit, nicht aus Notwendigkeit. Es war nämlich niemand außer ihr im Raum, und die Türe war verschlossen. Ihre langen, ungekämmten blonden Haare hingen bis auf den Schreibtisch herab. Ab und zu machte sie eine fahrige Bewegung und strich sie sich nach hinten in den Nacken.
    Sie schrieb hochkonzentriert und biss sich dabei auf die Unterlippe, blickte aber gelegentlich auf und hinaus in den dunkel werdenden Himmel jenseits der Gitterstäbe vor ihrem Fenster, so als benötigte sie eine Inspiration. Sie war eigentlich eine schöne Frau, doch der Kummer hatte sie verändert. Ihre strahlend blauen Augen waren verschwollen vom vielen Weinen und wirkten deshalb größer und prominenter als je zuvor in ihrem ausgezehrten Gesicht. Und da sie in den vergangenen Tagen so gut wie nichts zusich genommen hatte, hingen ihr die Kleider am Körper, als sei sie aus ihnen herausgewachsen. Auf ihre Kleidung achtete sie ohnehin nicht – das graue Kleid war falsch zugeknöpft, und um den Kragen herum war alles voller Flecken.
    Auch im Zimmer herrschte Unordnung. Kleidungsstücke, ob sauber oder schmutzig, lagen überall herum, quollen aus den Schubladen und waren nachlässig über die offenen Türen des Kleiderschranks in der Ecke geworfen. Auf dem vollgestopften Bücherregal neben der Tür drängelten sich ein überquellender Aschenbecher, ein gerahmtes Foto und ein Teller mit einem angebissenen Apfel und einem unberührten Sandwich.
    »Ich halte diesen Schmerz nicht länger aus«, schrieb sie. »Ich habe das Gefühl, ich werde verrückt. Es wäre wahrscheinlich besser zu sterben als so weiterzumachen. Nur wie? Das ist die Frage. Vielleicht kann ich Jana die Streichhölzer abnehmen, wenn sie hereinkommt, und dann sterben wir gemeinsam, sie und ich. Brennen, bis nichts mehr übrig ist von uns. Das wäre nur gerecht. Aber ich weiß, dass ich im letzten Moment nicht fähig sein werde, es wirklich zu tun. Ich werde kneifen – ich weiß es genau. Warum? Warum in aller Welt, warum? Es ist nicht die Angst vor dem Sterben, die mich hält. Das weiß ich. Es ist die Hoffnung – die Hoffnung auf ein Leben. Meine Hoffnung ist mein Verderben. Ist es immer gewesen. Das erkenne ich jetzt. Um wieviel besser ginge es mir ohne sie. Um wieviel …«
    Schlagartig unterbrach Katya ihre Schreiberei und hielt den Stift in die Luft. Draußen waren Schritte zu hören. Sie kannte das Geräusch – das Klackern glatter Ledersohlen auf Holzboden. Sie kamen den Gang entlang auf ihre Tür zu. Schnell ging sie zum Bücherregal und zog ein dickes Buch aus dem untersten Fach. Einst, in glücklicheren Tagen, hatte Katya das Innere des Buchs ausgehöhlt, um ein sicheres Versteck für ihr geheimes Tagebuch zu haben. Und dann hatte sie es lange vergessen, bis sie es in den vergangenen Wochen wieder herausgeholt und begonnen hatte,so gut wie täglich mit ihrer winzigen, spinnenartigen Schrift Einträge zu machen.
    Sie hatte gerade das Buch zurückgestellt und sich auf ihren Stuhl gesetzt, als sie hörte, wie hinter ihr der Schlüssel im Schloss gedreht wurde und eine großgewachsene, hagere und vollständig in Schwarz gekleidete Frau den Raum betrat.
    Jana Claes war nie schön gewesen, aber darauf hatte sie auch nie Anspruch erhoben. War ihre Nase zu groß für ihr blasses Gesicht, waren die Augen viel zu klein, und das Fehlen von so etwas wie »Figur« unterstrich noch ihre maskuline Ausstrahlung. Sie war jetzt fast fünfzig, mehr als doppelt so alt wie Katya, und sie trug ihr mittlerweile ergrauendes Haar so, wie sie es schon als Mädchen getragen hatte, nämlich in einem strengen Knoten am Hinterkopf. Katya hatte noch nie gesehen, dass sie den einmal aufgemacht hätte, genausowenig wie sie je erlebt hatte, dass sie etwas anderes trug als Schwarz. Jana war unverheiratet und trug als einzigen Schmuck ein silbernes Kruzifix, das an einer dünnen Kette an ihrem Hals hing. »Verdammte Heuchlerin«, sagte Katya zu sich selbst, sooft sie es erblickte.
    Als ältestes Kind einer fünfköpfigen Familie musste Jana schon mit dreizehn die Verantwortung für ihre Geschwister übernehmen, nachdem ihre Mutter eines Winternachmittags mit
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