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Der kleine Wassermann

Der kleine Wassermann

Titel: Der kleine Wassermann
Autoren: Otfried Preußler
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davor zu erkennen; so deutlich hoben sich Stämme und Wipfel im Schattenriss gegen den leuchtenden Hintergrund ab.
    Und dann tauchte mit einem Mal eine strahlende, kreisrunde Scheibe am Himmel herauf, goldgelb und gleißend wie eine wunderbar groß geratene Dotterblume.
    Da konnte der Wassermannjunge nicht länger an sich halten. „Vater!", rief er. „Die Sonne ...!"
    Der Wassermann lächelte, als er das hörte. Und ohne im Saitenspiel innezuhalten, entgegnete er: „Aber Junge, das ist doch der Mond, der da aufgeht."
    „Der-Mond?"
    „Ja, der Mond", lachte der Wassermannvater.
    Und weil ihm nun einfiel, dass ja der kleine Wassermann mit dem Namen allein nicht viel anfangen konnte, begann er dem Jungen vom Mond zu erzählen: Wie er in klaren Nächten über den Himmel zieht, wie er zunimmt und abnimmt und manchmal auch ganz verschwindet; und wie er dann doch immer wiederkommt und von Neuem heranwächst, sich rundet und voll wird; und was er auf seinen Reisen schon alles erlebt haben mag und noch weiter erleben wird, bis an das Ende der Zeiten.
    Und immer, wenn er dem Jungen ein Weilchen erzählt hatte, spielte der Wassermann wieder auf seiner Harfe, bevor er dann abermals anhob, um weiterzusprechen.
    Der Mond war indessen schon höher emporgestiegen. Gemächlich kam er am Himmel dahergeschwommen. Der kleine Wassermann hatte sich rücklings ins Gras gestreckt, um ihn besser betrachten zu können.
    Fast unmerklich hatte der Mond seine Farbe gewechselt. Er war nun aus einer Dotterblume zum funkelnden Silbertaler geworden. Und alles, was er mit seinen Strahlen nur anrührte, nahm einen silbernen Glanz an. Er hatte den Himmel versilbert, die Wiesen, den Weiher, das Schilf und die tanzenden Nebelfrauen, den Kahn, der am Ufer lag, und das Laub auf den Bäumen.
    „Jetzt treibt er geradewegs auf die alte Weide zu", sagte der Wassermannjunge auf einmal. „Er wird doch in ihren Zweigen nicht hängen bleiben?"
    „Du kannst ja hinaufsteigen", meinte der Wassermannvater, verstohlen schmunzelnd, „und kannst ihm darüber hinweghelfen."
    „Ja", antwortete der kleine Wassermannjunge, „das werde ich tun." Und er kletterte rasch auf die alte Weide hinauf, um den Mond aus den Zweigen zu heben. Aber er hatte sich unnütze Sorgen gemacht und sosehr er sich reckte und dehnte - er konnte den Mond nicht erreichen.

    Schon wollte der Vater ihn wieder herunterrufen, da hörte er, wie ihn der Junge verwundert fragte: „Haben wir unten im Weiher denn auch einen Mond?"
    „Nicht, dass ich wüsste", sagte der Wassermannvater. „Wie käme ein Mond in den Weiher?"
    „Aber ich sehe ihn doch!", rief der Wassermannjunge. „Ich sehe sie alle beide! Den einen am Himmel, den anderen unten im Wasser. Wie schön das ist, dass wir auch einen Mond haben! Wenn er uns nur nicht davonschwimmt...
    Aber ich weiß schon, ich werde ihn einfangen! Wenn ich hinunterspringe, dann kann ich ihn festhalten! Denk dir nur, wie die Mutter sich wundern wird, wenn ich ihr plötzlich den Mond auf den Küchentisch lege!"
    Ehe der Vater noch etwas auf diese Rede entgegnen konnte (es ist aber möglich, dass er das gar nicht im Sinn hatte), stürzte der kleine Wassermann sich von der Weide hinab in den Weiher. Er streckte im Fallen die Hände aus, um den Mond, der da funkelnd im Wasser trieb, nicht zu verfehlen.
    Aber was war das?
    Als er mit seinen Fingerspitzen den Wasserspiegel berührte, löste der Mond sich in Ringe von silbernen Wellen auf.
    „Hast du ihn?", fragte der Wassermannvater, kaum dass der prustende Junge wieder emporgetaucht war.
    Aber er wartete seine Antwort nicht ab; denn er sah, wie der Junge nun selber mitten im flüssigen Silber schwamm und wie silberne Tropfen aus seinen Haaren sprühten, als er sich schüttelte.
    Und das freute den Wassermann so, dass er wieder nach seiner Harfe griff und nicht aufhörte weiterzuspielen, solange der kleine Wassermann drunten im mondbeschienenen Weiher sein Silberbad nahm.

Jetzt reicht's aber!
    Der Sommer ging langsam zur Neige. Das Korn war geschnitten, von allen Seiten schwankten die Erntewagen dem Dorf zu, in den Obstgärten reiften die Äpfel und Birnen heran.
    Wieder einmal war der kleine Wassermann auf die alte Weide geklettert, um Ausschau zu halten. Da sah er drüben auf der Landstraße einen Menschenmann kommen.
    Der Menschenmann war lang und dürr, er hatte einen vornehmen schwarzen Anzug an und machte Schritte wie ein Storch. Unter dem linken Arm trug er einen zusammengeklappten Regenschirm und auf
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