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Der Kleine Mann und die Kleine Miss

Der Kleine Mann und die Kleine Miss

Titel: Der Kleine Mann und die Kleine Miss
Autoren: Erich Kästner
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Tollste ist: Es schmeckte ihnen auch noch!

    Einmal
wollte eine Amsel unbedingt durchs offene Küchenfenster und mitessen. Das war
eine Aufregung! Mäxchen schickte Mielchen zum Telefon und hielt den Vogel
inzwischen mit einem 180
    Bratenmesser
in Schach. Die Amsel schimpfte. Der Junge schrie:
    »Hau
ab, oder ich mache dich zu Geflügelsalat!«
    Doch
das war glücklicherweise nicht nötig. Denn mitten in der Redeschlacht kam der Jokus
über die Wiese gerannt, als wolle er den Weltrekord im Wiesenlauf unterbieten,
und die Amsel suchte das Weite. Das Weite? Sie flog auf den nächsten Baum und
schimpfte.
    Es
ist wirklich merkwürdig: Wenn Amseln singen, singen sie so süß wie Nachtigallen.
Womöglich noch süßer und einfallsreicher. Doch wenn sie schimpfen, dann
schimpfen und zetern sie wie Autofahrer bei Blechschaden.
    Als
die Zankamsel endlich davongeflogen war, bückte sich der Jokus und fragte: »Was
gibt’s denn zu Mittag?«
    »Gänseleber
vom Huhn mit Meerrettich und noch mehr Meerrettich«, meldete Mielchen. »Wollen
Sie mal kosten?« Sie hielt ihm einen Löffel voll durchs Fenster.
    Er
kostete, musste husten und meinte: »Eine scharfe Sache.«
    »Aber
gesund«, sagte Mielchen. »Meerrettich reinigt die Luftwege.«
    »Und
noch mehr Meerrettich reinigt die Luftwege noch mehr«, erklärte Mäxchen.
»Außerdem ist es ein lustiges Essen, weil man dabei weint.«
    »Ihr
solltet eure Rezepte aufschreiben und ein ›Kochbuch für Kinder‹ herausgeben«,
meinte Jokus. »Das würde Aufsehen erregen.«
    »Lieber
nicht«, sagte Mielchen. »Sonst kämen alle Eltern angerückt und zögen uns die
Hosen straff.«
    Mäxchen
war trotzdem für das Kochbuch. »Dabei lernst du Lesen und Schreiben, und Spaß
haben wir außerdem. Über unsere Rezepte wird man ziemlich staunen.«
    »Davon
bin ich überzeugt«, sagte der Jokus. »Und nun wünsche ich euch guten Appetit.
Bei uns drüben gibt’s Sahnegulasch mit Semmelknödeln. Wenn’s dunkel wird, hole
ich euch ab. Auf Wiedersehen.«
    Als
er über die Wiese stelzte, tat ihm das Kreuz weh. Das kommt davon, wenn man
sich so lange und so tief bückt, um fremde Küchen zu bewundern.
     
    Nach
dem ebenso lustigen wie tränenreichen Menü mit Meerrettich und noch mehr
Meerrettich setzten sich die kleine Miss und der kleine Mann in die Bibliothek
und tranken aus ihren klitzekleinen Porzellantassen Schokolade. Dazu gab es
Mandelsplitter und gehackte Rosinen. »Es war mir ein Festessen«, sagte Mäxchen.
»Du bist die geborene Hausfrau. Aber nun erkläre mir einmal, wieso du nicht
lesen und schreiben kannst.«
    »Wer
hätte mir’s denn beibringen sollen?«
    »Deine
Mutter.«
    »Aber
Mäxchen, sie stand doch von früh bis spät im Laden, und abends war sie
todmüde.«
    »Gab
es denn sonst niemanden? Keinen Lehrer? Keine Kindergärtnerin? Keinen Jungen
aus der Nachbarschaft, der in eine richtige Schule ging? Wo du doch ein so
niedliches Mädchen bist?
    Kannst
du mir das erklären?«
    Mielchen
sah ihm fest in die Augen und nickte. »Ich kann dir’s erklären. Aber nur, wenn
du mir schwörst, es keinem Menschen weiterzusagen.«
    »Ich
schwöre es. Bei Jakob Hurtigs Schulranzen. Er ist mein Freund und noch toller
schwören kann ich nicht.«
    »In
Fairbanks wusste doch überhaupt niemand, dass es mich gab«, flüsterte Mielchen
geheimnisvoll. »Ich habe nicht einmal einen Geburtsschein.«
    Er
saß und staunte.
    »Als
ich zur Welt gekommen war und mein Vater sah, wie klein ich war, lief er doch
fort. Ich weiß nicht, wo er ist und ob er noch lebt, und ich will’s auch gar
nicht wissen. Ein paar Wochen später fuhr Mutti nach Fairbanks und mietete von
ihrem letzten Geld ein Kolonialwarengeschäft. Dazu gehörte eine Ladenstube.
    Und
dort hat sie mich versteckt, bis wir hierher gekommen sind.«
    Da
nahm Mäxchen seine Porzellantasse und schmetterte sie an die Wand. »Neun Jahre
in der Ladenstube?«, schrie er. »Das war gemein! Das durfte sie nicht!
Niemals!«
    Mielchen
kniete am Boden, sammelte die Scherben und sagte:
    »Schade
um die schöne Tasse.«

    »Ach
was!«, rief Mäxchen wütend. »Um die neun Jahre ist es schade!« Doch wie er die
kleine Miss auf dem Teppich zwischen den Scherben hocken sah, sprang er vom
Stuhl, schlang den Arm um sie und drückte sie fest an sich. So saßen sie eine
ganze Weile. Mielchen weinte, und diesmal lag es nicht am Meerrettich.
    Der
Junge wischte ihr die Tränen von den Backen, betrachtete seine Hände und sagte:
»Ausgerechnet heute habe ich dreckige
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