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Der kleine Koenig Dezember

Titel: Der kleine Koenig Dezember
Autoren: Axel Hacke
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Stern«, sagte der König.
    »Wenn das so ist…«, sagte ich, »und ich wäre unsterblich, dann würden alle meine Freunde einmal Sterne, nur ich nicht. Und nach ihrem Tod würde ich in den klaren Nächten immer zu ihnen hinaufschauen. Das einzige, was ich dabei wüsste, wäre, dass ich nie wissen werde, was sie wissen.«
    Der König schaute still in die Gegend rechts vom Großen Wagen,und plötzlich wurde er sehr aufgeregt. Er stand mit einem Ruck auf und ging quer über meinem Bauch hin und her, so eilig, dass es mich kitzelte und ich beinahe zu lachen angefangen hätte.

    »Weißt du noch«, sagte er, »wie ich dir erzählt habe, ich wüsste nicht mehr, wie es geht, dass man bei uns zur Welt kommt? Ein König und eine Königin müssten etwas tun, an das ich mich nicht mehr erinnern kann, habe ich dir gesagt, nicht wahr? Und dass man eines Morgens aufwacht, so groß, wie ihr es seid, und im Bett liegt und von da an sein Leben lang immer kleiner wird, nicht wahr – das habe ich doch erzählt?«
    »Ja, das hast du erzählt«, sagte ich.
    »Und jetzt weiß ich wieder, was der König und die Königin tun müssen«, sagte er.
    »Was?«, fragte ich.
    »Sie müssen sich umarmen…«
    »Das kenne ich schon«, sagte ich.
    »Sie müssen sich umarmen auf einem Balkon wie diesem, ganz fest umarmen, und dann müssen sie die Augen schließen, und dann müssen sie hinunterspringen.«
    »Hinunterspringen!?«
    »Sie müssen hinunterspringen. Wenn sie unten ankommen und sich fest genug umarmt haben und die Augen fest genug geschlossen hatten, dann gibt die Erde nach wie ein Trampolin, und sie hüpfen in den Himmel und holen einen Stern hinunter und legen ihn in ein Bett. Und am Morgen wacht er auf und ist einer von uns.«
    »Bist du sicher?«, fragte ich.
    »Sicher«, sagte er.
    »Und hast du es schon getan?«, fragte ich.
    »Sicher«, sagte er.
    »Hattest du keine Angst?«
    »Doch, aber meine Königin hat mich fest gehalten.«
    »Also wird jeder Mensch einmal ein kleiner König?«, fragte ich.
    »Und schrumpft, bis man ihn nicht mehr sieht?«
    »So ist es«, sagte der König Dezember.
    »Das ist sehr traurig für mich«, sagte ich.
    »Warum denn?«, fragte er.

    »Weil ich unsterblich bin.«
    »Du bist es doch gar nicht«, sagte der kleine König Dezember. »Wir hatten es uns nur vorgestellt.«
    »Das hatte ich ganz vergessen«, sagte ich, hob wieder den Kopf und blickte den König an, der von meinem Bauch auf die Brust und dann über den Hals gegangen war und gerade mühsam auf meinen Kopf kletterte. Schließlich stand er auf meinem Kinn.
    »Bist du eigentlich…«, fing ich an.
    »Sprich langsam und vorsichtig!!!«, rief der König nervös. »Sonst falle ich in deinen Mund, und du verschluckst mich!«
    »Bist du eigentlich unsterblich?«, fragte ich.
    »Wie kommst du darauf?«
    »Was heißt bei euch: Ende des Lebens?«, fragte ich. »Ich meine, wo hört das Kleinerwerden auf? Bloß weil dein Vater so klein ist, dass du ihn nicht mehr sehen kannst – heißt das, dass er nicht mehr da ist? Vielleicht läuft er hier noch irgendwo zwischen uns rum und deine Großmutter auch und dein Opa. Sie sind klein wie Staubkörner, und man kann sie nicht zertreten, denn sie passen in die winzigsten Ritzen der Schuhsohlen. Kann sein, alles schrumpft immer weiter bei euch, und es gibt kein Ende des Lebens.«
    Der König Dezember schwankte, während ich redete, wie ein Spazierstock, den man auf einer flachen Hand stehend zu balancieren versucht. Er schaute in meinen offenen Mund hinunter.
    »Woher soll ich das wissen?«, sagte er.
    I m Winter lege ich, wenn ich nachmittags nach Hause komme, drei, vier Briketts in meinen alten grünen Kachelofen und zünde sie an. Und wenn das Zimmer warm wird, hocke ich zwischen den Ohrenbacken des alten Sessels neben den Bücherregalen, schaue aus dem Fenster und sehe fette, nasse Schneeflocken vorbeisinken, groß wie kleine Königsköpfe.
    Manchmal ist es ganz still, dann wieder höre ich hinter der Mauer Stimmen, wie man sie in Stadtwohnungen hört, weil die anderen Menschen so nah sind und die Wände so dünn. So dünn?
    Ich weiß nicht, wie dick die Wände wirklich sind. Kommen die Stimmen aus der Wohnung nebenan? Oder aus der Wand selbst, die nicht dünn ist, sondern riesig dick, so dick, dass in ihr die ganze Welt des kleinen Königs Dezember Platz hat?
    Man müsste die Wand aufhacken, habe ich anfangs gedacht; einen Presslufthammer nehmen und in die Mauer treiben, um nachzusehen, was dort ist. Doch
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