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Der kleine Koenig Dezember

Titel: Der kleine Koenig Dezember
Autoren: Axel Hacke
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dem Tischbein links abgebogen und steuerten nun direkt auf den Ofen zu.
    »Er lebt ganz allein«, sagte der König. »Und es sind alles seine Bilder.« Der Laster krachte in einen besonders tiefen Spalt zwischen zwei Parkettbohlen, und ich blickte besorgt durch das Rückfenster, weil ich dachte, wir könnten das Bild verlieren. Es lag aber breit und platt auf dem Anhänger, und auch das angebissene Gummibärchen des Königs war noch auf der Ladefläche.
    »Weißt du«, sagte der König Dezember, »ich glaube, man muss sich die Zimmer des Bilderhabers vorstellen wie das Innere eines Kopfes. Ein Mensch schaut sein Leben lang die Welt an, und in seinem Kopf sammeln sich Millionen von Bildern. Manche von ihnen guckt sich der Mensch fast jeden Tag wieder an, andere sind aber in ganz entlegenen Zimmern seines Kopfes aufgehängt, und er sieht sie erst wieder, wenn er lange gesucht hat oder zufällig dorthingekommen ist. Aber sie sind da, auch wenn er sich vielleicht nie mehr an sie erinnert – sie sind immer in seinem Kopf.«

    »Im Sessel sitzen«, sagte ich, »…und spazierengehen. Man sieht Bilder, von denen man gar nicht wusste, dass sie im Kopf hängen.«
    »Vielleicht«, sagte der König. Wir waren am Ofen angekommen. Er bremste, stellte den Motor ab und sagte: »Wir müssen abladen.«
    Wir stiegen aus dem Laster, gingen nach hinten, hoben das Bild vom Anhänger und trugen es vor die Lücke, hinter der der große Bilderhaber wohnt.
    »Bilderhaber!«, rief der König laut in die Lücke hinein. »Bilderhaber, bist du da?«
    Es war nichts zu hören. Der König rief noch einmal, lauschte einen Moment und sagte dann: »Wahrscheinlich ist er irgendwo im Haus unterwegs und hört uns nicht. Manchmal tut er tagelang nichts anderes, als durch seine Zimmer zu wandern und seine Bilder anzuschauen. Wir stellen das Bild hier an die Fußbodenleiste und fahren weg. Er wird es hereinholen, sobald er es bemerkt, und dann wird er mein Gummibärchen als Lohn hier hinlegen, so dass ich es abholen kann. Wir haben es schon öfter so gemacht.«
    Der König zog seinen Samtmantel aus, aber trotzdem kam er beim Abladen ins Schwitzen, denn es war sehr warm hier in der Nähe des Ofens. Als wir fertig waren, fuhren wir den Weg, den wir gekommen waren, zurück. Direkt vor meinem Sessel parkte der König. Wir stiegen aus, und ich sagte: »Glaubst du, dass der Bilderhaber ein glücklicher Mann ist?«
    »Kannst du dir vorstellen«, sagte der König, »dass jemandunglücklich ist, der zum Preis eines Gummibärchens ein Bild der grünen Krone des Dachrinnenkönigs Endenovember bekommt?«
    Er nahm das angebissene Bärchen vom Laster und ging wieder zu seinem Ritz hinter dem Bücherregal, hinter dem er immer verschwindet. Als er weg war, öffnete ich im Sessel die Augen. Neben meinem rechten Fuß stand der kleine Lastwagen, und als ich weiter durchs Zimmer schaute, sah ich, dass an der Fußbodenleiste direkt beim alten Ofen, dort, wo wir das Bild hingelegt hatten, ein rotes Gummibärchen lag.

    Vollständige eBook-Ausgabe der im Verlag Antje Kunstmann erschienenen Buchausgabe
    Originalausgabe © Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 1993
    Litho: Reproline, München
    Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
    ISBN 978-3-88897-617-9
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