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Der Kinderdieb

Titel: Der Kinderdieb
Autoren: Brom
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schneller, als das Mädchen es je bei einem Menschen gesehen hatte. Noch bevor der Mann wieder auf die Beine kam, hatte er sich auf ihn gestürzt. Die beiden polterten über den Flur und außer Sicht.
    Etwas schlug so hart gegen die Wand, dass das Bett des Mädchens wackelte. Der Mann stieß ein Heulen aus, und etwas zerbrach. Dann ertönte ein einziger, abgehackter Schrei aus der Kehle des Mannes, gefolgt von einem tiefen »Oh Gott«, das mehr wie ein Ausatmen klang, und schließlich ein dumpfer Aufschlag. Stille senkte sich über die Wohnung.
    Das Mädchen blickte zum offenen Fenster und überlegte, ob es fliehen sollte, doch bevor es etwas tun konnte, war der Junge schon wieder da. Als drahtiger Schattenriss stand er in der Tür.
    Als er ins Zimmer trat, wich sie zurück. Das schien den Jungen zu beunruhigen. Leise eilte er ans Fenster, sprang hoch undhockte sich aufs Fensterbrett. Sein schulterlanges, zerzaustes Haar war rotbraun, und er hatte Sommersprossen auf Nase und Wangen und –
spitze Ohren
. Er schaute zu den Sternen auf, als wollte er ihre Magie in sich aufsaugen, und wandte sich dann wieder zu dem Mädchen um. Ihr fiel auf, dass er goldene Augen hatte, wie ein Luchs.
    Als er den Kopf schief legte und lächelte, funkelten die goldenen Augen. In ihnen lag etwas Wildes, etwas Aufregendes und Gefährliches. Der Junge schob ein Bein auf die Feuerleiter hinaus und bedeutete ihr mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen.
    Sie wollte aufstehen, doch dann hielt sie inne. Was dachte sie sich eigentlich dabei? Sie konnte diesem seltsamen Jungen doch nicht einfach in die Nacht hinaus folgen. Also schüttelte sie den Kopf.
    Sein Lächeln verblasste. Er schaute erneut zu den Sternen hinauf, und dann winkte er, wie um sich von ihr zu verabschieden.
    »Warte!«, rief sie.
    Er hielt inne.
    Mehr fiel ihr nicht ein. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie wusste nur, dass sie nicht wollte, dass dieser Zauberjunge sie verließ. Ein funkelnder Stern erregte ihre Aufmerksamkeit. All die Sterne leuchteten so hell, dass sie sich plötzlich fragte, ob sie träumte, ob dieser Junge vielleicht aus dem Himmel herabgestiegen war, um sie von hier fortzuholen.
    Blinzelnd versuchte sie, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie brauchte einen Moment zum Nachdenken. Sie wollte ins Bad, aber dafür musste sie über den Flur, und das wollte sie nicht. Sie wollte nicht sehen, was der goldäugige Junge mit dem Mann gemacht hatte. Außerdem wollte sie den Jungen nicht aus den Augen lassen, aus Angst, dass der Zauber sich verflüchtigte, dass er bei ihrer Rückkehr für immer fort und sie dann alleinwäre. Ihr Blick fiel auf die schwere Messinggürtelschnalle des Mannes, auf die zusammengeknüllte Hose darunter, und sie begann, den Saum ihres Nachthemds zu verdrehen, immer fester, bis schließlich ein Schluchzen aus ihrer Kehle drang. In Tränen aufgelöst rutschte sie aus dem Bett und ging auf die Knie.
    Der Junge trat zu ihr und kniete sich neben sie. Während sie, die Hände vors Gesicht geschlagen, dasaß und weinte, erzählte er ihr von einer verzauberten Insel, auf die keine Erwachsenen durften. Dort gab es andere Kinder wie sie, die gerne lachten und spielten. Dort konnte man großartige Abenteuer erleben.
    Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und brachte sogar ein Lächeln zustande, während sie über die alberne Geschichte den Kopf schüttelte. Doch als er sie einlud, ihn dorthin zu begleiten, erwischte sie sich dabei, ihm zu glauben. Und obwohl eine Stimme tief in ihrem Innern ihr sagte, dass sie sich von diesem Jungen fernhalten sollte, wünschte sie sich in jenem Moment nichts sehnlicher, als mit ihm zu gehen.
    Sie ließ den Blick durch das winzige Zimmer schweifen, in dem der Mann ihr so viel geraubt hatte. Hier gab es nichts außer schmerzlichen Erinnerungen. Was hatte sie also zu verlieren?
    Als der Junge sich erneut anschickte zu gehen, zog sie sich eilig an und folgte ihm über die Feuerleiter auf die Straße und hinaus in die Nacht.
    Hätte das Mädchen nur mit den anderen Jungen und Mädchen reden können, jenen etwa, die dem goldäugigen Jungen bereits gefolgt waren, dann hätte es gewusst, dass man immer noch etwas zu verlieren hat.

TEIL 1
Peter

 

     
KAPITEL 1
Der Kinderdieb
     
    In einer kleinen Ecke des Prospect Park in Brooklyn versteckte sich ein Dieb zwischen den Bäumen. Dieser Dieb hielt nicht nach einer unbewachten Geldbörse, nach einem Handy oder einem Fotoapparat Ausschau. Dieser Dieb suchte nach einem
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