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Der Ketzerlehrling

Der Ketzerlehrling

Titel: Der Ketzerlehrling
Autoren: Ellis Peters
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eindringlichen Augen, die aufblickten in die Ewigkeit, diesmal jedoch in kleinerem Maßstab geschnitzt, kein Kopf, sondern eine Halbfigur, die eine kleine Harfe in den Händen hielt.
    Mit andächtiger Sorgfalt kippte Anselm die Schatulle, fing das Buch mit der Handfläche auf und ließ es auf den Tisch gleiten.
    »Kein Heiliger«, sagte er, »auch wenn er oft mit einem Heiligenschein dargestellt wurde. Das ist König David, und was wir hier haben, ist gewiß ein Psalter.«
    Das purpurne Pergament des Einbands war über dünne Holzdeckel gespannt, und als Anselm das Buch aufschlug, war zu sehen, daß die erste Lage des Buches und auch die letzte gleichfalls purpurn eingefärbt waren. Die übrigen Blätter waren überaus fein und glatt und fast rein weiß. Das Eingangsbild stellte den spielenden und singenden Psalmisten dar, thronend wie ein Kaiser und umgeben von irdischen und himmlischen Musikanten. Die leuchtenden Farben sprangen ihnen von der Seite förmlich entgegen, so eindrucksvoll wie die Klänge, die der königliche Musikant seinen Saiten entlockte. Dies war keine kraftvolle, byzantinische Flächenmalerei, klassisch und monumental, es zeigte vielmehr geschwungene, zarte und anmutige Formen, so geschmeidig und ätherisch wie die Bordüre aus Weinreben, die das Bild umgab. Alles wand und kräuselte sich und war elegant gestreckt. Gegenüber, auf seidenglattem Pergament, begann der Text, in goldener Unziale geschrieben und mit einem prachtvollen Initial verziert.
    Doch auf dem nächsten Blatt, der Widmungsseite, kam eine andere Handschrift zum Vorschein, säuberlich, flüssig und gerundet.
    »Das ist keine östliche Schrift«, sagte der Bischof und beugte sich vor, um besser sehen zu können.
    »Nein. Es ist die Irische Minuskel, die Schrift der Insel.«
    Anselms Stimme wurde noch andächtiger und ehrfurchtsvoller, als er Seite auf Seite umschlug, bis zur Elfenbeinweiße des Innenteils, in dem die Schrift zugunsten eines intensiven Schwarzblaus auf das Gold verzichtet hatte und die Initialen in leuchtenden Farben erblühten, durchflochten und gerahmt von Wiesenblumen, Kletterrosen, Pflänzchen, die nicht größer waren als ein Daumennagel, Vögeln, die auf Zweigen sangen, kaum dicker als ein Haar, und scheuen Tieren, die aus der Deckung blühender Sträucher herauslugten. Winzige Frauen saßen lesend auf Rasenbänken in Geißblattlauben. Goldene Fontänen plätscherten in Elfenbeinbecken, Schwäne schwammen auf kristallenen Flüssen, winzige Schiffe überquerten Ozeane von der Größe einer Träne.
    Die Blätter der letzten Lage des Buches wiesen wieder das kaiserliche Purpur auf, die letzten jubilierenden Psalmen waren in Gold geschrieben, und der Psalter endete mit einer gemalten Seite, auf der ein Firmament aus schwebenden Engeln, ein Paradies aus Heiligen und eine verklärte Erde mit erlösten Seelen gemeinsam mit dem Psalmisten Gott im Himmel priesen. Und all die bebenden Flügel der Engel, die Heiligenscheine, die Trompeten und Harfen, die Saiteninstrumente und Orgeln, die Tamburine und Zymbeln waren aus poliertem Gold; die Bewohner von Himmel, Paradies und Erde waren gleichermaßen schlank und ätherisch wie die Ranken von Rosen und Geißblatt und Wein, die sie umgaben, und das Firmament über ihnen war so blau wie die Schwertlilien und die Blüten des Immergrüns zu ihren Füßen, während die Spitzen der Engelsflügel mit einem Himmel aus blendendem Gold verschmolzen, der das letzte Mysterium dem Blick entzog.
    »Das ist ein Wunder!« sagte der Bischof. »So etwas habe ich noch nie gesehen. Ein unschätzbares Werk. Wo kann das entstanden sein? Hat es je ein vergleichbares Kunstwerk gegeben?«
    Anselm schlug die Seite mit der Widmung auf und las die lateinischen Worte laut und langsam vor:
    »Geschrieben auf Wunsch von Otto, Kaiser und König, für die Hochzeit seines geliebten Sohnes Otto, Prinz des Römischen Reiches, mit der hochedlen und reizenden Theophanu, Prinzessin von Byzanz, ist dieses Buch das Geschenk des Allerchristlichen Herrschers an die Prinzessin.
    Diarmaid, Mönch in St. Gallen, hat es gemalt und geschrieben.«
    »Irische Schrift und ein irischer Name«, sagte der Abt.
    »Gallus war selbst Ire, und viele seiner Landsleute sind ihm dorthin gefolgt.«
    »Und unter ihnen einer«, sagte der Bischof, »der dieses kostbare Buch geschaffen hat. Aber die Schatulle wurde zweifellos später angefertigt, und zwar auch von einem irischen Künstler. Vielleicht stammt das Elfenbein auf dem Einband von
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