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Der Kalligraph Des Bischofs.

Der Kalligraph Des Bischofs.

Titel: Der Kalligraph Des Bischofs.
Autoren: Titus Müller
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aber versuchte er, Ruhe auszustrahlen und Stilla von ihrer Qual und Unsicherheit abzulenken, indem er sie in Unterhaltungen
     verwickelte. Die Gespräche |384| lenkten ihn auch von dem Gewicht ab, das er selbst auf dem Rücken schleppte: Auch wenn ihre Wasserschläuche leer waren, bog
     sich sein Rücken unter dem schweren Bündel von Pergamenten.
    Häufig beschrieb er ihr die schroffe Schönheit ihrer Umgebung, oder er erklärte ihr Dinge, die er von Aelfnoth in Tours gelernt
     hatte. Stilla mußte ihm von den Tagen mit Odos mürrischer Magd erzählen, von ihrer Kindheit, von Claudius’ Vorgänger.
    »Ich fühle mich wie ein Kind, das das Laufen lernt«, unterbrach sie einmal seufzend die Unterhaltung. »Ständig stoße ich mir
     die Füße, falle hin … Am liebsten würde ich umkehren.«
    »Wir haben über die Hälfte des Weges geschafft. Du schlägst dich so tapfer – halte noch ein bißchen durch! Nur morgen und
     übermorgen, dann dürften wir den steinigen Teil überwunden haben. Auf den weichen Wiesen läuft es sich viel besser. Weißt
     du nicht? Wir sind doch gestern eine runtergelaufen.«
    »Wenn es anständige Wiesen wären! Aber sie ziehen einen abwärts, zerren an den Knien, als wollten sie einen zu Boden werfen.«
    Über ihren Köpfen rauschten Flügel, gellten kurze Schreie.
    »Was ist das? Ein Vogelschwarm?«
    »Ja. Es sind – warte, es sind Waldrappe! Kennst du diese Vögel?«
    »Nein. Wie sehen sie aus?«
    »Groß, schwarz. Sie haben rote Schnäbel, die lang sind und gebogen. Wir hatten zahme Vögel dieser Art in den Gemüsegärten,
     wo ich aufgewachsen bin. Ihre Flügel waren gestutzt, und sie haben alle Schnecken weggestochert, ohne das Gemüse anzurühren.
     Sehr nützliche Tiere.«
    »Sie fliegen nach Norden, richtig?«
    »Sie fliegen genau dorthin, wohin auch wir unterwegs sind.«
    |385| »Dann laß uns ihnen folgen. Zu Fuß, leider.« Stilla seufzte, und Germunt zog sie mit sich, lachend.
     
    Ausgehungert, müde und erleichtert erreichten Stilla und Germunt nach schier endloser Wanderung den Sennerhof. Die Sennerin
     mußte die Besucher schon durchs Fenster gesehen haben, denn sie lief ihnen entgegen, ein strahlendes Lächeln im alten Gesicht.
     »Wen hast du denn da mitgebracht? Willkommen, junger Mann, und du natürlich ebenfalls, junges Fräulein. Himmel, tut es gut,
     dich wiederzusehen, Germunt!«
    Kaum gelang es den beiden, ihren Berichten einen sinnvollen Zusammenhang zu geben, da ihnen der köstliche Duft einer Rahmsuppe
     um die Nase strich. Als das Gericht endlich auf den Tisch kam, kehrte der Senner heim und war nicht minder erfreut über die
     Gäste.
    Das alte Bauernpaar nahm Stillas Einschränkung wie selbstverständlich hin. Sie halfen ihr, sich im Raum zu orientieren, und
     behandelten sie mit der gleichen Herzlichkeit, die sie Germunt entgegenbrachten. Germunt beobachtete gerührt, wie der Senner
     ihr den Schemel zurechtrückte, wie die Sennerin sie vor der heißen Suppe warnte und Stillas Hand behutsam auf den Löffel legte,
     der neben der Suppenschale lag.
    Die Offenbarung, daß die beiden gekommen waren, um länger zu bleiben, erfüllte die Senner mit solcher Freude, daß man meinen
     konnte, sie hätten statt der dicken Milch schweren Wein in ihren Bechern.
    »Daß uns so etwas auf unsere alten Tage noch geschieht!«
    »Gerade jetzt, wo die Arbeit anfängt, uns über den Kopf zu wachsen …«
    »Unsere beiden Söhne sind früh gestorben, dafür schenkt uns Gott nun einen neuen Sohn und eine neue Tochter.«
    »Und wie nett sie sind!«
    Es kostete Stilla und Germunt eine Menge Überzeugungsarbeit, bis die Senner davon abgerückt waren, ihnen |386| die beiden Betten zu überlassen. Dafür wurden nun jedes Fell und jede Decke, die sich im Haushalt fanden, vor dem Kamin ausgebreitet.
     Die Füße zur leise singenden Glut gestreckt, kuschelten sich die Gäste in ihr Nest.
    »Es wird nicht mehr lange dauern, bis der Legat Turin erreicht.«
    Eine lange, lange Zeit floß zähes Schweigen wie Honig durch den Raum. Dann flüsterte Stilla: »Tu es nicht, bitte!«
    »Du kennst meine Gedanken?«
    »Ich wußte es die ganze Zeit, habe es zumindest geahnt. Du wärst nicht so fröhlich gewesen unterwegs.«
    »Kannst du mich verstehen? Ein bißchen?«
    »Ich will nicht verstehen. Ich will nicht diesen Schmerz. Wozu habe ich dir so vertraut … mich so an dich gewöhnt?«
    »Ich komme in einem Monat zurück.«
    »Ach so? Ist das sicher?«
    Germunt schwieg.
    »Claudius kommt allein
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