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Der Junge

Der Junge

Titel: Der Junge
Autoren: J. M. Coetzee
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spürt, daß zwischen Rob Hart und Miss Oosthuizen etwas vor sich geht, in das er nicht eingeweiht ist.
      Rob Hart ist groß und hübsch auf verwegene Art. Obgleich Rob Hart nicht intelligent und vielleicht sogar versetzungsgefährdet ist, fühlt er sich zu ihm hingezogen. Rob Hart gehört zu einer Welt, zu der er noch keinen Zugang gefunden hat – einer Welt des Sex und der Prügel.
      Er selbst hat kein Verlangen, von Miss Oosthuizen oder irgendeinem anderen geschlagen zu werden. Bei der bloßen Vorstellung, verprügelt zu werden, windet er sich vor Scham. Er ist bereit, alles zu tun, um sich das zu ersparen. In dieser Beziehung ist er unnormal und weiß das. Er kommt aus einer unnormalen Familie, für die man sich schämen muß, in der nicht nur die Kinder nicht geschlagen, sondern die älteren Familienmitglieder mit dem Vornamen angeredet werden, in der keiner in die Kirche geht und man jeden Tag Schuhe trägt.
      Jeder Lehrer und jede Lehrerin an seiner Schule hat einen Rohrstock und darf ihn nach Belieben einsetzen. Jeder dieser Stöcke hat eine Persönlichkeit, einen Charakter, der den Jungen vertraut ist und endlosen Gesprächsstoff liefert. Im Geist echter Kennerschaft wägen die Jungen die Charaktere der Stöcke ab und die Art des Schmerzes, den sie zufügen, sie vergleichen die Arm- und Handgelenktechnik der Lehrer, die sie schwingen. Keiner erwähnt die Schande, aufgerufen zu werden, sich bücken zu müssen und den Hintern versohlt zu bekommen.
      Ohne eigene Erfahrungen kann er sich an diesen Gesprächen nicht beteiligen. Trotzdem weiß er, daß nicht der Schmerz das wichtigste daran ist. Wenn die anderen Jungen den Schmerz aushalten können, dann kann er, der einen viel stärkeren Willen hat, das auch. Was er nicht ertragen könnte, ist die Schande. Die Schande wird so schlimm sein, fürchtet er, so schrecklich, daß er sich an sein Pult klammern und sich weigern wird, nach vorn zu kommen, wenn er aufgerufen wird. Und das wird eine noch größere Schande sein: es wird ihn absondern und auch die anderen Jungen gegen ihn aufbringen. Wenn der Fall je eintreten sollte, daß man ihn zur Prügelstrafe aufruft, wird es eine so beschämende Szene geben, daß er nie wieder in die Schule gehen kann; es wird schließlich keinen anderen Ausweg geben, als sich umzubringen.
      Das also steht auf dem Spiel. Deshalb gibt er im Unterricht nie einen Mucks von sich. Deshalb ist er immer ordentlich gekleidet, hat immer seine Hausaufgaben erledigt, weiß immer die Antwort. Er traut sich nicht, einen Fehler zu machen. Wenn er einen Fehler macht, riskiert er, geschlagen zu werden; und ob er nun geschlagen wird oder sich dagegen sträubt, ist ganz gleich, er wird sterben.
      Das Merkwürdige daran ist, daß nur eine Tracht Prügel genügen würde, um diesen Bann des Entsetzens, der ihn gefangen hält, zu brechen. Er weiß es nur zu gut: wenn er die Tracht Prügel irgendwie schnell hinter sich bringen könnte, ehe er Zeit gehabt hätte, zu versteinern und Widerstand zu leisten, wenn die Schändung seines Körpers schnell und gewaltsam geschehen könnte, dann könnte er daraus als normaler Junge hervorgehen und sich wie selbstverständlich an der Diskussion über die Lehrer, ihre Rohrstöcke und die verschiedenen Grade und Nuancen des Schmerzes, den sie zufügen, beteiligen. Doch von sich aus kann er diese Hürde nicht überspringen.
      Dafür macht er seine Mutter verantwortlich, weil sie ihn nicht schlägt. Er ist gleichzeitig dankbar dafür, daß er Schuhe trägt, Bücher aus der Bücherei ausleiht und nicht zur Schule geht, wenn er erkältet ist – für alles, was ihn von anderen unterscheidet –, und böse auf die Mutter, weil sie keine normalen Kinder hat, die sie für ein normales Leben erzieht. Der Vater würde aus ihnen eine normale Familie machen, wenn er das Sagen hätte. Der Vater ist in jeder Beziehung normal. Er ist seiner Mutter dankbar, daß sie ihn vor der Normalität des Vaters behütet, das heißt, vor den gelegentlichen Zornausbrüchen, bei denen seine Augen blau funkeln und er damit droht, ihn zu schlagen. Gleichzeitig ist er böse auf die Mutter, weil sie ihn in ein unnatürliches Wesen verwandelt, das man schützen muß, wenn es weiterleben soll.
      Unter den Rohrstöcken ist es nicht der von Miss Oosthuizen, der ihn am meisten beeindruckt. Der gefürchtetste Stock ist der von Mr. Lategan, dem Lehrer für den Werkunterricht. Mr. Lategans Stock ist nicht lang und federnd in der Art, wie ihn die
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