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Der Junge

Der Junge

Titel: Der Junge
Autoren: J. M. Coetzee
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ist eine Erlösung, in den Umkleideraum zurückzukommen und die Schuhe wieder anzuziehen; doch nachmittags kann er kaum noch auftreten, und als die Mutter ihm zu Hause die Schuhe auszieht, stellt sie fest, daß seine Fußsohlen voller Blasen sind und bluten.
      Er erholt sich drei Tage lang zu Hause. Am vierten Tag kehrt er mit einem Schreiben der Mutter in die Schule zurück, einem Schreiben, dessen zornigen Wortlaut er kennt und billigt. Wie ein verwundeter Krieger, der seinen Platz in den Reihen der Kameraden wieder einnimmt, humpelt er den Gang zu seinem Pult hinunter.
      »Warum hast du gefehlt?« flüstern seine Klassenkameraden.
      »Ich konnte nicht laufen, ich hatte Blasen auf den Fußsohlen vom Tennis«, antwortet er flüsternd.
      Er erwartet Verwunderung und Mitleid; statt dessen wird ihm Heiterkeit zuteil. Sogar die Schuhträger unter seinen Klassenkameraden nehmen seine Geschichte nicht ernst. Irgendwie haben auch sie abgehärtete Füße, Füße, die keine Blasen bekommen. Nur er hat empfindliche Füße, und empfindliche Füße, so stellt sich heraus, bedeuten keine Auszeichnung. Urplötzlich ist er isoliert – er, und durch ihn seine Mutter.

Drei
    Aus der Stellung seines Vaters im Haushalt ist er nie schlau geworden. Es ist ihm eigentlich nicht klar, mit welchem Recht er überhaupt da ist. In einem normalen Haushalt ist der Vater das Oberhaupt, das gibt er gern zu – das Haus gehört ihm, Frau und Kinder leben unter seinem Regiment. Doch in ihrem Fall, und das trifft auch auf den Haushalt der beiden Schwestern seiner Mutter zu, bilden die Mutter und die Kinder das Zentrum, während der Mann nicht mehr als ein Anhängsel ist, einer, der zur Haushaltskasse beiträgt wie zum Beispiel ein zahlender Mieter.
      So weit seine Erinnerung reicht, hat er sich als Prinz des Hauses gefühlt und seine Mutter als seine fragwürdige Gönnerin und besorgte Beschützerin – besorgt und fragwürdig, weil, wie er weiß, ein Kind eigentlich nicht Herr im Hause sein sollte. Wenn er auf jemanden eifersüchtig sein könnte, dann nicht auf den Vater, sondern auf den jüngeren Bruder. Denn seine Mutter fördert auch seinen Bruder – sie fördert ihn, und weil sein Bruder klug ist, doch nicht so klug wie er selbst, und auch nicht so kühn oder unternehmungslustig, zieht sie ihn sogar vor. Ja, seine Mutter scheint immer die Fittiche über ihn zu breiten, bereit, Gefahren abzuwenden; während sie bei ihm nur irgendwo im Hintergrund ist, abwartet und lauscht, bereit, auf seinen Ruf hin zu ihm zu eilen.
      Er will, daß sie sich ihm gegenüber genauso verhält wie seinem Bruder gegenüber. Doch er wünscht sich das als Zeichen, als Beweis, nichts weiter. Er weiß, daß er einen Wutanfall bekäme, wenn sie ihn jemals bemuttern würde.
      Er treibt sie immer wieder in die Enge und fordert, daß sie gesteht, wen sie mehr liebt, ihn oder seinen Bruder. Stets weicht sie der Falle aus. »Ich liebe euch beide gleich«, behauptet sie lächelnd. Selbst mit seinen genialsten Fragen (Was wäre, wenn zum Beispiel im Haus ein Feuer ausbrechen würde und sie nur einen von ihnen retten könnte?) gelingt es ihm nicht, sie einzufangen. »Beide«, sagt sie – »ich würde euch ganz bestimmt beide retten. Aber es wird kein Feuer ausbrechen.« Obwohl er sich über sie lustig macht, weil sie so nüchtern denkt, respektiert er doch ihre hartnäckige Treue.
      Seine Wutausbrüche gegenüber seiner Mutter gehören zu den Dingen, die er vor der Welt draußen sorgfältig verborgen halten muß. Nur sie vier wissen, welche Zornesausbrüche er ihr zumutet, wie geringschätzig er sie behandelt. »Wenn deine Lehrer und Freunde wüßten, wie du mit deiner Mutter sprichst…«, sagt der Vater und droht ihm bedeutungsvoll mit dem Finger. Er haßt seinen Vater deswegen, weil er so deutlich den schwachen Punkt in seiner Rüstung sieht.
      Er will, daß der Vater ihn schlägt und in einen normalen Jungen verwandelt. Und gleichzeitig weiß er, wenn sein Vater es wagen würde, ihn zu schlagen, dann würde er nicht ruhen, bis er sich gerächt hätte. Wenn ihn sein Vater schlüge, würde er überschnappen – besessen werden, wie eine in die Enge getriebene Ratte, die hin und her springt und die giftigen Zähne fletscht, zu gefährlich, um sich ihr zu nähern.
      Zu Hause ist er ein unleidlicher Despot, in der Schule ein Lamm, zahm und fromm, in der zweiten Reihe von hinten sitzend, in der unauffälligsten Reihe, so daß niemand ihn beachtet, und vor Angst
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