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Der Junge aus dem Meer - Roman

Der Junge aus dem Meer - Roman

Titel: Der Junge aus dem Meer - Roman
Autoren: Aufbau
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sie dabei an sich selbst und Isadora gedacht und sich erinnert, wie sie sich ganz ähnlich wegen eines unpassenden Jungen stritten?
    Hatte Mom womöglich erkannt – die meisterschreckende aller Erkenntnisse –, dass sie sich in ihre eigene Mutter verwandelte?
    »Ich glaube«, fuhr Mom fort und stützte ihr Kinn mit der Hand ab, »dass Isadora einfach nicht akzeptieren konnte, wie weit ich mich von ihr und allem, woran sie glaubte, entfernt hatte.« Sie schüttelte kichernd den Kopf. »Weißt du, Coral hat mir mal erzählt, dass Isadora sogar das Debütantinnenkleid für mich verwahrt hat, so als ob ich irgendwann meine Meinung ändern würde.«
    Eine blitzartige Erkenntnis durchfuhr mich. »Wie hat dein Kleid ausgesehen?«
    Mom zog die Augenbrauen hoch und war verständlicherweise überrascht von meiner Frage.
    »CeeCees Einfluss«, witzelte ich trocken, in der Hoffnung, dass die Erklärung ausreichte.
    »Es war ziemlich hübsch«, erwiderte Mom, wobei sich ihre Augen wieder leicht verschleierten. »Cremefarben mitdiesen kleinen rosa Rosen, die sich an der Seite entlangzogen. Es hat mir eigentlich das Herz gebrochen, dieses Kleid abzulehnen, aber ich wusste, dass ich mich behaupten musste.« Sie zuckte mit den Schultern und merkte dabei nicht, wie ich sie mit großen Augen anglotzte.
    Herz und Kopf rasten. Das Kleid in dem Koffer war Moms Debütantinnenkleid für den Ball! Isadora hatte es all diese Jahre behalten. Doch warum hatte sie es versteckt? Und warum teilte es sich das Versteck mit ihren Briefen von Henry Williams?
    Mom sagte noch etwas anderes über Isadoras Reaktion, doch meine Gedanken waren schon bei den Briefen. Obwohl so viel passiert war, seit ich sie gestern gelesen hatte, war die Erinnerung an sie noch frisch. So wie ich es bereits bei Llewellyn Thorpes Buch gemacht hatte, fing ich nun an, ein paar Fragmente zusammenzusetzen – Fragmente, die ich zwar gesehen, aber nicht wirklich aufgenommen hatte.
    Wie beispielsweise die Tatsache, dass Isadora diese Briefe ungefähr ein Jahr vor Moms Geburt geschrieben hatte.
    Wie beispielsweise die Tatsache, dass – oh, mein Gott – Henry Williams, gemäß der Adresse auf den Umschlägen und gemäß Daryl Phelps Brief, Henry B. Williams war.
    Henry Blue Williams.
    Moms Name war Amelia Blue. Sie hatte gesagt, dass die Leute sie immer so genannt hatten, bis sie aufs College gegangen war. Bevor sie entschieden hatte, dass einfach nur Amelia viel bequemer war. So nannten sie die Leute auf Selkie Island jetzt.
    Ich konnte kaum atmen. Hatte Isadora ihre jüngste Tochter Amelia Blue genannt, weil sie dem Mann, den sie liebte, dadurch ein Denkmal setzen wollte? Oder hatte sie ihr diesen Namen gegeben, weil Henry Blue Williams Moms …
    »Miranda?«, fragte Mom, und mir wurde klar, dass sie zu sprechen aufgehört hatte – und dass ich den Stuhl zurückgeschoben und meine Arme um mich selbst geschlungen hatte. Ich konnte spüren, wie groß meine Augen geworden waren, und bemerkte die Gänsehaut auf meinen Armen. Mom blickte mich besorgt an und wiederholte meinen Namen.
    »Mom«, platzte ich heraus. »Isadora hat dein Kleid behalten. Es liegt in einem Koffer oben im Wandschrank. Zusammen mit diesen … Briefen. Briefe, die Isadora einem Mann namens Henry Blue Williams geschrieben hat.«
    Ich rechnete damit, dass meine Mutter mich fragen würde, wovon um Himmels willen ich gerade sprach. Stattdessen wurde ihr Gesicht ganz blass und sie runzelte die Stirn.
    »Sie haben sich geschrieben?«, fragte sie leise.
    »Du weißt von ihm?«, fragte ich zurück, während mir ein kalter Schauer den Rücken herunterlief.
    Mom nickte langsam und presste die Finger an ihre Schläfen. Dann sah sie mich mit einem furchtsamen, einem zögernden Blick an.
    »Mom, erzähl’s mir«, bettelte ich. Ich hatte das Gefühl, bereits zu wissen, was jetzt kam.
    »Weißt du«, sagte Mom und überraschte mich damit, dass sie ihre Hand über den Tisch ausstreckte und auf meine legte, »eine Menge Wahrheiten kamen bei diesen Streitereien mit Isadora zutage. Einmal verlor ich die Geduld und warf ihr an den Kopf, dass ihr theatralisches Getue meinen Vater früh ins Grab gebracht habe. Und sie erwiderte …« Mom machte eine Pause und holte tief Luft. »… Sie erwiderte, dass mein richtiger Vater gar nicht Jeremiah Hawkins sei, sondern ein Mann namens Henry Blue Williams. Sie sagte nicht, wo er herstammte, und ich wollte die Einzelheitenauch gar nicht wissen. Ich wusste nicht mal, ob sie die Wahrheit
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