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Der Junge aus dem Meer - Roman

Der Junge aus dem Meer - Roman

Titel: Der Junge aus dem Meer - Roman
Autoren: Aufbau
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falsch«, seufzte sie. »Für eine Weile war ich glücklich mit Teddy. Er war ein echter Gentleman und hat mich sehr gut behandelt. Doch er verstand mein Interesse an Naturwissenschaft und Medizin nicht. Ich glaube, er fand mich etwas merkwürdig.« Mom lächelte mich wissend an. »Und an meinem achtzehnten Geburtstag hatte ich genug. Ich konnte es nicht ausstehen, wie mein ganzes Leben schon für mich vorhergeplant war, bis ins kleinsteDetail. Ich fand es schrecklich, wie vorhersehbar alles geworden war, wie alle meine Freundinnen mit meinen anderen Freunden ausgingen, wie die Mädchen jeden Sommer die gleichen Sandalen trugen und die gleichen Partys auf der Strandpromenade besuchten. Ich begann, mich über diese festen Strukturen meines Lebens und die ganzen Regeln, die immer befolgt werden mussten, zu ärgern.«
    Die Art und Weise, wie Mom jetzt redete, erinnerte mich daran, wie ich Leo gestern meine Geschichte erzählt hatte – und wieder kam mir ein Springbrunnen oder ein Wasserfall in den Sinn. Endlich sprudelten die Erinnerungen und alten Wahrheiten aus meiner Mutter heraus.
    »Ich hatte andere Interessen und Wünsche«, sagte Mom. »Als ich klein war, habe ich einmal zu Isadora gesagt, dass ich gern Ärztin werden wollte. Sie versetzte mir einen kleinen Stoß und sagte, ich könne ja einen heiraten. Das war Isadoras Ziel. Sie war sehr schlau, weißt du, hatte aber schon vor langer Zeit Frieden mit ihrer Stellung im Leben geschlossen. Und sie erkannte keinen Grund, wieso ich ihrem Beispiel nicht folgen sollte. Isadora hat sich immer an die Regeln gehalten.«
    Nein, hat sie nicht, dachte ich, sprach es aber nicht aus.
    »Ohne meiner Mutter davon zu erzählen, hatte ich mich fürs College beworben – und nicht irgendein College, sondern eins oben im Norden«, fuhr Mom fort.
    »Yale«, ergänzte ich für sie, und sie nickte.
    »Ypsilon steht für Yankee«, sagte sie lächelnd. »Isadora hatte wenig Respekt vor Yankees. Sie war eine von diesen Südstaatenfrauen, die den Bürgerkrieg als ›Northern Aggression‹ bezeichneten. Und nun sollte ihre jüngste Tochter in der Wildnis von Connecticut studieren – es gab wohl kein schlimmeres Schicksal.«
    »Dann habe ich es ihr erzählt. Ich bekam die Zulassung für Yale einen Tag vor dem Debütantenball, lief zu meiner Mutter und sagte ihr, wie überdrüssig ich des Ganzen sei, der Engstirnigkeit, des Mangels an Möglichkeiten. Ich hatte meine Zulassung in der einen und mein Kleid für den Ball in der anderen Hand. Und ich reichte Isadora das Kleid. Ich sagte ihr, dass ich dafür keine Verwendung mehr hätte. Ich forderte sie auf, den Ball abblasen. Und die Hochzeit.«
    »Was hat sie gesagt?« Ich versuchte, mir den Showdown vorzustellen.
    »Sie war natürlich völlig entsetzt.« Mom sah zufrieden und bedauernd zugleich aus. »Wir hatten einen furchtbaren Streit. Sie sagte, ich würde bloß eine Trotzphase durchmachen und käme sicher bald wieder zur Besinnung. Tja, offenbar ist das nicht geschehen.«
    »Habt ihr da aufgehört, miteinander zu sprechen?«, fragte ich.
    »Das war der Anfang vom Ende.« Mom zeichnete einen Kreis auf ihre eiskalte Bierflasche. »Als ich nach Yale ging, deinen Vater traf und ihn schließlich heiratete, gab es erst den wirklichen Bruch.« Mom lächelte, ihr Gesichtsausdruck war plötzlich zärtlich. »Dein Vater«, fügte sie hinzu und sah mich an, »war anders als jeder Mann, dem ich zuvor begegnet war. Er war frech und laut und brach ständig die Regeln. Und natürlich ist das wahrscheinlich der Grund, der zu unserer Scheidung führte. Wenn ich zu diesem Zeitpunkt mit Isadora gesprochen hätte, dann hätte sie bestimmt nicht widerstehen können, mir ein ›Hab ich’s nicht gesagt?‹ zuzuglucksen.«
    »Isadora hat Dad wohl nicht gebilligt, was?«, fragte ich lächelnd. Allein der Gedanke an meinen Vater – meinen lustigen, unverblümten Yankee-Vater, mit Sicherheit keinMeermann – erfüllte mich mit einem tröstlichen Gefühl von Normalität.
    »Machst du Witze?«, fragte Mom lachend. »In meinem Abschlussjahr habe ich gewagt, ihn in den Winterferien mit nach Hause zu bringen. Die Streitereien, die ich seinetwegen mit Isadora hatte, sind legendär.«
    Mom machte eine Pause und blickte mich an. Ob sie, so wie ich, an unsere zurückliegenden Streitereien dachte? Mir fiel wieder ein, wie sie am Abend zuvor, als sie mich wegen Leo ausschimpfen wollte, mitten im Satz verstummt war. Wie sie die Fotos auf dem Kaminsims angeschaut hatte. Hatte
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