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Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
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unmöglich, daß er in allernächster Zeit ein Gut im Werte von sechzigtausend, vielleicht sogar noch mehr Rubeln erhielt. Ich habe schon oben gesagt, daß dieser Wersilow in seinem Leben drei Erbschaften durchgebracht hatte, und da war es nun möglicherweise wieder eine Erbschaft, die ihm aus der Klemme half! Die gerichtliche Entscheidung stand unmittelbar bevor. ImHinblick darauf war ich auch hergereist. Allerdings gab ihm auf die bloße Hoffnung hin niemand Geld, so daß er nirgends welches borgen konnte; sie mußten daher einstweilen aushalten.
    Aber Wersilow ging auch zu niemandem hin, obwohl er manchmal den ganzen Tag fortblieb. Es war schon mehr als ein Jahr her, daß man ihn aus der vornehmen Gesellschaft ausgestoßen hatte. Diese Affäre war mir trotz all meiner Bemühungen in der Hauptsache unklar geblieben, obwohl ich schon einen ganzen Monat lang in Petersburg wohnte. War Wersilow schuldig oder nicht? Das war für mich eine wichtige Frage, und ebendeswegen war ich hergereist! Alle hatten sich von ihm abgewandt, unter anderen auch alle einflußreichen, vornehmen Leute, mit denen Beziehungen zu unterhalten er sein ganzes Leben lang besonders gut verstanden hatte, und zwar war dies geschehen infolge von Gerüchten über eine sehr gemeine und (was in den Augen der »vornehmen Gesellschaft« das allerschlimmste war) aufsehenerregende Handlung, die er vor mehr als einem Jahr in Deutschland begangen haben sollte; es hieß sogar, er habe damals allzu öffentlich eine Ohrfeige erhalten, und zwar gerade von einem der Fürsten Sokolskij, habe aber nicht mit einer Forderung zum Duell geantwortet. Sogar seine Kinder (die legitimen), der Sohn und die Tochter, hatten sich von ihm losgesagt und wohnten von ihm getrennt. Allerdings hatten der Sohn und die Tochter durch die Familie Fanariotow und durch den alten Fürsten Sokolskij (Wersilows ehemaligen Freund) Verkehr mit den höchsten Kreisen. Übrigens fand ich, während ich ihn diesen ganzen Monat lang aufmerksam beobachtete, in ihm einen hochmütigen Menschen, der nicht von der Gesellschaft aus ihrem Kreis ausgeschlossen war, sondern vielmehr seinerseits die Gesellschaft weggejagt hatte, – eine so selbstbewußte Miene machte er. Aber hatte er ein Recht, eine solche Miene zu machen? Das war's, worüber ich mich aufregte! Ich mußte unbedingt in kürzester Frist die volle Wahrheit erfahren; denn ich war hergereist, um über diesen Menschen das Urteil zu fällen. Ich hielt meine Macht noch vor ihm verborgen, aber ich mußte ihn entweder anerkennen oder ihn gänzlich von mir stoßen. Das letztere wäre mir garzu schmerzlich gewesen, und dieser Gedanke bereitete mir Qualen. Ich will nun endlich ein volles Geständnis ablegen: dieser Mensch war mir teuer!
    Vorläufig lebte ich mit ihnen in ein und derselben Wohnung, arbeitete und beherrschte mich nur mit Mühe so weit, daß ich nicht grob wurde. Ja, es gelang mir nicht einmal, mich so weit zu beherrschen. Obwohl ich schon einen Monat bei ihnen lebte, kam ich mit jedem Tag mehr zu der Überzeugung, daß ich es absolut nicht fertigbrachte, mich mit der Bitte um endgültige Aufklärung an ihn zu wenden. Der stolze Mensch stand geradezu als ein Rätsel vor mir, das mich in tiefster Seele beleidigte. Er benahm sich gegen mich sogar liebenswürdig und scherzte mit mir, aber mir wären Streit und Zank lieber gewesen als diese Scherze. Alle meine Gespräche mit ihm trugen immer den Charakter einer gewissen Zweideutigkeit, oder, einfacher gesagt, er bediente sich dabei eines eigentümlich spöttischen Tones. Er nahm mich nach meiner Ankunft aus Moskau gleich von vornherein nicht für voll. Ich konnte nicht begreifen, warum er das tat. Allerdings erreichte er dadurch, daß ich in sein Innerstes nicht hineinschauen konnte; aber ich selbst hätte mich nicht dazu erniedrigt, ihn zu bitten, daß er ernst mit mir umgehen möchte. Außerdem hatte er gewisse wunderbare, unwiderstehliche Manieren an sich, gegen die ich nicht aufkam. Kurz gesagt, er behandelte mich wie einen ganz grünen Jungen, was ich kaum ertragen konnte, obgleich ich gewußt hatte, daß es so geschehen würde. Infolgedessen hörte ich selbst auf, ernst zu sprechen, und wartete das Weitere ab; ja, ich redete überhaupt fast gar nicht mehr. Ich wartete auf jemand, dessen Ankunft in Petersburg es mir ermöglichen sollte, endgültig die Wahrheit zu erfahren; das war meine letzte Hoffnung. Jedenfalls bereitete ich mich darauf vor, endgültig mit ihnen zu brechen, und traf
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