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Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
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damit meine Worte nicht zu falschen Auffassungen Anlaß geben. Zudem konnte Wersilow denken (falls er mich überhaupt für wert hielt, seine Gedanken auf mich zu richten), da komme so ein junger Bursche, der eben das Gymnasium durchgemacht habe, ein Jüngling, und blicke die Welt mit erstaunten Augen an. Aber dabei kannte ich bereits sein ganzes Geheimnis und hatte ein sehr wichtiges Schriftstück in Händen, für das er (jetzt weiß ich das bereits zuverlässig) mehrere Jahre seines Lebens hingegeben haben würde, wenn ich ihm damals dasGeheimnis entdeckt hätte. Ich merke übrigens, daß ich Rätsel aufgegeben habe. Ohne Tatsachen kann man Gefühle nicht schildern. Überdies wird von alledem am gegebenen Ort noch genug und übergenug die Rede sein; darum habe ich ja auch zur Feder gegriffen. Aber so zu schreiben wie jetzt eben, das nimmt sich wie Phantasterei oder Wolkennebel aus.

VIII
     
    Um nun endlich definitiv zum 19. September zu kommen, will ich nur noch in aller Kürze und sozusagen im Vorübergehen bemerken, daß ich sie alle, das heißt Wersilow, meine Mutter und meine Schwester (die letztere sah ich zum erstenmal in meinem Leben), in sehr bedrängten Verhältnissen vorfand: sie waren fast bettelarm oder standen doch unmittelbar vor völliger Armut. Ich hatte davon schon in Moskau gehört, aber doch nicht alles geahnt, was ich nun mit eigenen Augen sah. Ich war von klein auf gewöhnt gewesen, mir diesen Menschen, diesen »meinen künftigen Vater«, beinahe mit einer Art von Glorienschein vorzustellen, und konnte ihn mir gar nicht anders denken als überall auf dem ersten Platz. Wersilow hatte bisher nie mit meiner Mutter in ein und derselben Wohnung gewohnt, sondern ihr immer eine besondere gemietet; allerdings hatte er das nur aus den in solchen Kreisen üblichen gemeinen »Anstandsrücksichten« getan. Aber jetzt wohnten sie alle zusammen in einem Holzhäuschen, in einer Seitenstraße des Semjonowskij Polk. Alle ihre Sachen waren bereits versetzt, so daß ich meiner Mutter ohne Wersilows Wissen meinen heimlichen Schatz, sechzig Rubel, gab. Ich sage: meinen heimlichen Schatz, denn diese Summe hatte ich mir von meinem Taschengeld, das mir im Betrag von fünf Rubeln monatlich verabfolgt wurde, im Laufe von zwei Jahren zusammengespart; begonnen hatte ich mit dem Sparen gleich am ersten Tag, als mir meine »Idee« gekommen war, und darum durfte Wersilow von diesem Geld keine Silbe wissen. Davor zitterte ich.
    Diese Beihilfe war nur ein Tropfen auf einen heißen Stein. Meine Mutter arbeitete, und meine Schwester nahm gleichfalls Näharbeit an; Wersilow dagegen ging müßig,betrug sich launenhaft und hatte eine Menge seiner früheren, ziemlich kostspieligen Gewohnheiten beibehalten. Er murrte gewaltig, besonders über das Mittagessen, und sein ganzes Benehmen war völlig despotisch. Aber meine Mutter, meine Schwester, Tatjana Pawlowna und die ganze aus einer Menge von Frauenspersonen bestehende Andronikowsche Familie (Andronikow war ein drei Monate vorher verstorbener Bürovorsteher, der neben seinem Amt Wersilows Geschäftsangelegenheiten besorgt hatte) verehrten ihn andächtig wie einen Fetisch. Ich hatte mir so etwas gar nicht vorstellen können. Ich bemerke, daß er neun Jahre vorher unvergleichlich eleganter gewesen war. Ich habe bereits gesagt, daß er in meinen Träumereien mit einer Art Glorienschein umgeben war, und daher konnte ich es nicht begreifen, wie er in einer Zeit von nicht mehr als neun Jahren so hatte altern und sich zu seinem Nachteil verändern können; das stimmte mich sofort traurig und flößte mir Mitleid und Scham ein. Sein Anblick war einer der peinlichsten Eindrücke, die ich gleich nach meiner Ankunft hatte. Übrigens war er noch durchaus kein alter Mann, er war erst fünfundvierzig Jahre alt; bei genauerer Betrachtung fand ich in seiner immer noch schönen Erscheinung sogar etwas Anziehenderes, als das, was in meiner Erinnerung haftete. Es war jetzt weniger äußerer Glanz, weniger Vornehmheit als damals vorhanden, aber das Leben hatte diesem Gesicht einen viel interessanteren Ausdruck als früher aufgeprägt.
    Indessen bildete die Armut nur den zehnten oder zwanzigsten Teil seines Mißgeschicks, und ich wußte das nur zu gut. Außer der Armut lag noch etwas sehr viel Ernsteres vor – um gar nicht davon zu reden, daß er immer noch Hoffnung hatte, einen Erbschaftsprozeß zu gewinnen, den er schon vor einem Jahr gegen die Fürsten Sokolskij angestrengt hatte; es war daher nicht
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