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Der Jünger

Der Jünger

Titel: Der Jünger
Autoren: Sharon Sala
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hatten, um ihren Besuch anzukündigen, war sie so aufgeregt wie ein junges Mädchen vor der ersten Verabredung.
    Als sie die beiden kommen sah, winkte sie ihnen zu, stand aber nicht auf.
    January bemerkte sofort, wie ihre Freundin sich verändert hatte, und es tat ihr leid, dass sie so schnell gealtert war.
    “Guten Tag, ihr beiden”, sagte Mutter Mary T. und deutete auf die zwei gegenüberstehenden Stühle. “Setzt euch, setzt euch. Wir haben Tee und Leckereien.”
    January blieb kurz stehen, um der kleinen Nonne einen Kuss auf die Wange zu geben, bevor sie sich auf dem Stuhl niederließ, der ihr am nächsten stand.
    “Ich auch”, sagte Ben, küsste Mutter Mary T. auf die Stirn und setzte sich neben January.
    “Wir haben Ihnen etwas Schokolade mitgebracht”, sagte January, als Ben ihr eine in Goldfolie verpackte Schachtel mit Godiva-Schokolade überreichte.
    “Oh, oh, mein Untergang.” Erfreut nahm Mutter Mary T. diese für sie rare Süßigkeit entgegen, dann deutete sie auf die Kanne. “January, meine Liebe, könnten Sie uns einschenken?”
    January schenkte ein, rührte zwei Stück Zucker in Bens Tasse, Sahne in Mutter Marys und ließ ihren eigenen Tee schwarz.
    “Die Kekse sind aus Hafermehl”, erklärte Mutter Mary T. “Sehr nahrhaft, aber sie schreien nach Rosinen und Nüssen. Unglücklicherweise verweigert sich Schwester Ruth allen irdischen Genüssen, was heißt, ich werde sie lieber nicht in Versuchung führen und ihr von meiner Schokolade anbieten.”
    January grinste, Ben lachte laut.
    Sie tranken zusammen Tee, aßen Kekse und tauschten ein paar heitere Belanglosigkeiten aus, wie man es eben beim gemeinsamen Tee tat. Schließlich war es Mutter Mary T., die auf den Punkt kam.
    “Sagen Sie mir, was nicht in Ordnung ist.”
    January blinzelte. Die Frage traf sie völlig unerwartet. Trotzdem war sie froh, dass das Thema endlich zur Sprache kam.
    “Wie kommen Sie darauf, dass etwas nicht in Ordnung ist?”, fragte January.
    “Ich kenne Sie, January”, erwiderte sie kleine Nonne. “Also reden Sie.”
    January biss sich auf die Unterlippe, dann lehnte sie sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. “Er verfolgt mich.”
    Mutter Mary T. zuckte zusammen. Sie musste nicht erst fragen, wen January mit “er” meinte.
    “Im Schlaf?”
    “Immer. Wenn ich wach bin. Wenn ich schlafe. Auf der Straße. In Geschäften. Ich sehe ihn ständig. Warum? Warum will er nicht gehen?”
    “Das ist schwierig zu beurteilen.”
    January versuchte einen anderen Ansatz. “Ich habe eine Frage. Es ist etwas Theologisches.”
    “Ich werde sie beantworten, wenn ich kann.”
    “Gott sagt, wenn wir um Vergebung bitten, dann wird uns vergeben, stimmt das?”
    “Ja, wenn unser Wunsch wirklich aufrichtig ist.”
    “Okay … Sagen wir mal, jemand ist ein schrecklicher Sünder. Tut grausame Dinge, doch wenn dieser Jemand am Ende den Herrn um Vergebung bittet, wird ihm das gewährt?”
    Mutter Mary Theresa seufzte. Sie kannte diese Verwirrung. In ihrem Leben hatte sie sich früher selbst damit herumgequält. “So steht es in der Bibel.”
    “Aber das scheint doch irgendwie nicht fair zu sein.”
    Die Nonne zuckte mit den Schultern. “Bei Gott geht es nicht um Fairness. Gott ist Liebe und Vergebung.”
    Einen Moment herrschte Schweigen. Mutter Mary wusste, worauf January hinauswollte, wartete aber dennoch auf ihre Frage.
    “Wenn also jemand Schlechtes tut”, begann January schließlich, “eine ganze Menge schlechter Dinge … aber er ist nicht richtig im Kopf, muss er dafür zur Verantwortung gezogen werden? Beurteilt ihn Gott aufgrund seiner Taten oder der Absicht, die er dabei hatte?”
    “Was meinen Sie selbst?”, gab Mutter Mary die Frage postwendend zurück.
    January kämpfte mit den Tränen. Sie hasste Jay Carpenter für das entsetzliche Leid, das er im Namen Gottes und der Liebe angerichtet hatte, doch im tiefsten Innern konnte sie ihn nicht für die Krankheit verantwortlich machen, die den ganzen Horror verursacht hatte.
    “Ich glaube …” Sie holte tief Atem. “Ich denke, dass ihm vergeben wurde, so wie allen anderen.”
    “Dann haben Sie also Ihre Frage selbst beantwortet, oder nicht?”
    “Aber habe ich recht?”
    “Sie wissen, dass es so ist.”
    “Oh Gott”, sagte January und schlug sich die Hände vor das Gesicht. “Ich habe dem Mann gewünscht, dass er zur Hölle fährt, und er hatte gerade davor so fürchterliche Angst. War das eine Sünde von mir?”
    Die Nonne seufzte. “Meine
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