Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Joker

Titel: Der Joker
Autoren: Markus Zusak Alexandra Ernst
Vom Netzwerk:
Umschlag. Ich lese sie langsam, aufmerksam. Ein Schauder überzieht meine Hände. Er bahnt sich seinen Weg in mein Inneres und wandert weiter, nagt leise an meinen Gedanken. Ich lese die Adressen noch einmal:
     
     
    Edgar Street 45, Mitternacht
    Harrison Avenue 13, 18 Uhr
    Macedoni Street 6, 5.30 Uhr morgens
     
     
    Ich öffne den Vorhang und schaue hinaus.
    Nichts.
    Ich schiebe mich am Türsteher vorbei und gehe auf die Veranda.
    »Hallo?«, rufe ich.
    Aber wieder - nichts.
    Die Brise wendet sich ab, als sei es ihr peinlich, gelauscht zu haben. Und ich bleibe allein vor meiner Hütte stehen. Ich habe immer noch die Karte in der Hand. Ich kenne die Adressen nicht, jedenfalls nicht direkt. Ich weiß zwar, wo die Straßen sind, habe aber keine Ahnung, welche Häuser gemeint sind.
    Das ist zweifellos das Seltsamste, was mir je passiert ist.
    Wer würde mir so etwas schicken? , frage ich mich. Was habe ich angestellt, dass mir jemand eine alte Spielkarte in den Briefkasten steckt, auf der fremde Adressen geschrieben stehen? Ich gehe wieder rein und setze mich an den
Küchentisch. Ich versuche herauszufinden, was los ist und wer mir diese merkwürdige, unheimliche Post beschert hat. Etliche Gesichter wirbeln in meinem Kopf umher.
    War es Audrey? , überlege ich. Marv? Ritchie? Ma? Ich habe keine Ahnung .
    Etwas in meinem Herzen rät mir, die Karte wegzuwerfen, in den Müll zu befördern und die ganze Sache zu vergessen. Aber aus irgendeinem Grund fühle ich mich bereits schuldig, dass ich so etwas überhaupt in Erwägung ziehe.
    Vielleicht ist es Schicksal , denke ich.
    Der Türsteher trottet zu mir und schnüffelt an der Karte.
    So ein Mist , kann ich in seinen Augen lesen, ich dachte, es wär was zu fressen. Nachdem er noch einmal kurz geschnüffelt hat, hält er einen Moment inne und überlegt, was er als Nächstes tun könnte. Wie immer trottet er zurück zur Tür, dreht sich einmal um die eigene Achse und legt sich dann hin. Er macht es sich in seinem schwarzgoldenen Fell bequem. Seine großen Augen glänzen und Dunkelheit steigt in ihnen auf. Seine Pfoten liegen breit auf dem alten, dreckstarrenden Teppich.
    Er glotzt mich an.
    Ich glotze zurück.
    Was? , sehe ich in seinen Augen. Was zum Teufel willst du?
    Nichts.
    Gut.
    Prima.
    Und dabei belassen wir es.
    Es ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass ich noch immer das Karo-Ass in meiner Hand halte. Ratlos.

    Ruf jemanden an , sage ich zu mir.
    Das Telefon ist schneller als ich. Es klingelt. Vielleicht ist dies die Antwort, auf die ich gewartet habe.
    Ich nehme den Hörer ab und presse ihn gegen mein Ohr. Es tut fast ein bisschen weh, aber ich lausche dennoch angestrengt. Leider ist es meine Mutter.
    »Ed?«
    Diese Stimme würde ich überall erkennen. Außerdem brüllt diese Frau so sehr ins Telefon, dass sie es eigentlich gar nicht braucht. Sie könnte sich auch einfach an den Stra ßenrand stellen und ein Gespräch mit dem anderen Ende der Stadt führen.
    »Ja, hallo , liebste Mutter!«
    »Fang bloß nicht so an, du kleiner Scheißer.« Klasse. »Hast du nicht was vergessen?«
    Ich denke nach, versuche, mich zu erinnern. Aber weder Gedanken noch Erinnerungen tauchen auf. Alles, was ich sehen kann, ist die Karte, die ich in meiner Hand hin und her drehe. »Ich wüsste nicht, was.«
    »Typisch!« Sie klingt jetzt ein bisschen angespannt. Verärgert, gelinde gesagt. »Du hättest mir heute den Beistelltisch aus dem Möbelladen holen sollen, Ed.« Sie spuckt die Worte durch die Leitung. Laut und nass klatschen sie mir ins Ohr. »Du Volltrottel.« Ist sie nicht süß?
    Wie ich vorhin schon angedeutet habe, ist meine Mutter dem Fluchen zugeneigt. Sie flucht den lieben langen Tag, von morgens bis abends, egal ob sie sich glücklich, traurig, gleichgültig oder sonst wie fühlt. Natürlich gibt sie die Schuld dafür meinem Bruder Tommy und mir. Sie sagt, dass wir als Kinder ständig geflucht hätten, wenn wir im Garten Fußball gespielt haben.

    »Ich hab’s aufgegeben, es euch abgewöhnen zu wollen«, erzählt sie mir immer. »Und da dachte ich mir: Wenn du sie nicht unterkriegen kannst, mach einfach mit.«
    Wenn ich mit ihr ein Gespräch führen kann, ohne dass sie mich auch nur einmal Trottel oder Wichser nennt, ist das ein Ereignis, das rot im Kalender angestrichen werden muss. Das Schlimmste daran ist der Nachdruck, mit dem sie ihre Flüche ausspricht. Immer wenn sie mich mit einem Schimpfwort bedenkt, spuckt sie es von den Lippen und schlägt es mir
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher