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Der Jäger

Der Jäger

Titel: Der Jäger
Autoren: Andreas Franz
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jetzt denkst.«
    »Quatsch! Du kannst überhaupt nicht wissen, was ich denke. Und außerdem bin ich sauer auf Berger.«
    »Vergiss Berger. Aber ich kenne dich lange und gut genug. Du denkst, das letztes Jahr war nur der Anfang, die Ouvertüre. Und nun geht es erst richtig los. Hab ich Recht?«
    »Keine Ahnung, vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich hoffe, ich irre mich. Ich hoffe es inständig. Wäre es nur das Erdrosseln gewesen, wir hätten nicht unbedingt einen Zusammenhang erkennen müssen. Aber eine Nadel durch die Schamlippen … Was hat das bloß zu bedeuten?« Und nach einem tiefen Atemzug: »Diese verdammte Drecksau hat wieder angefangen! Ich bin einfach nur wütend, wütend über dieses Schwein, das diesen Frauen das antut.«
    Hellmer zuckte nur die Schultern, drückte die Tür auf, und sie traten ins Freie. Sie nahmen den Lancia, fuhren aus dem Präsidiumshof, stoppten kurz an der Ampel und bogen rechts ab in die Mainzer Landstraße. An der Galluswarte überquerten sie die Straßenbahnschienen, fuhren die Kleyerstraße entlang bis nachGriesheim. Sie kamen über die Omegabrücke, am Bahnhof vorbei. Durant rauchte ihre Zigarette zu Ende und warf sie aus dem Fenster.

Montag, 9.20 Uhr
     
    »Da sind wir. Am Gemeindegarten 5«, sagte Hellmer, als er den Lancia vor dem Haus stoppte. Unter der Brücke war ein kleiner, rundum vergitterter Bolzplatz angelegt, ein paar Meter weiter stand ein gelb angestrichener Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg.
    »Hübsches Haus. Wär mir allerdings zu laut. Die Eisenbahn direkt vor der Nase und dazu noch die Brücke. Nein, danke.«
    »Du sollst ja auch nicht hier wohnen. Bringen wir’s hinter uns.«
    Bernd Müllers Wohnung war im zweiten Stock, direkt unter dem Dach. Sie warteten nach dem Klingeln einige Sekunden, bis der Türsummer ertönte. Es war ein altes, in den zwanziger Jahren gebautes, sehr gepflegtes Haus, in dem es jetzt nach Zwiebeln, Knoblauch und fremdländischen Gewürzen roch. Im Erdgeschoss wohnten zwei türkische Familien, im ersten Stock Italiener. Die frisch gebohnerten Stufen knarrten bei jedem Schritt. Müller stand in der Wohnungstür, die dunklen Haare zerzaust, die Schultern nach vorne gedrückt, als läge eine unsägliche Last auf ihnen, die Augen waren gerötet. Er trug Jeans und ein Karohemd. Ein kleiner Junge im Pyjama von vielleicht sechs Jahren steckte seinen Kopf nach draußen.
    »Geh in dein Zimmer«, sagte Müller mit schwerer Stimme. »Geh und mach die Tür hinter dir zu. Ich kümmere mich gleich wieder um euch.«
    »Durant von der Kripo, und das ist mein Kollege Hellmer. Können wir uns ungestört unterhalten?«
    »Natürlich, kommen Sie rein.« Er trat zurück, ließ die Beamtenan sich vorbeigehen. Durant schätzte seine Größe auf etwa einsfünfundachtzig. »Bitte, dort hinten rechts ist das Wohnzimmer. Suchen Sie sich einen Platz aus.«
    Das Wohnzimmer war ein kleiner, aber gemütlich und stilvoll eingerichteter Raum, der jetzt unaufgeräumt war. Ein überquellender Aschenbecher auf dem Tisch, eine fast leere Flasche Remy Martin sowie einige Flaschen Bier daneben. Müller, der wegen des mangelnden Schlafs der vergangenen Tage dunkle Ringe unter den Augen hatte und sehr nervös wirkte, stellte sich ans Fenster, eine Hand in der Hosentasche, mit der andern fuhr er sich durchs Haar.
    »Warum sie?«, fragte er und schüttelte den Kopf. »Warum ausgerechnet sie? Sie hat doch weiß Gott keiner Menschenseele etwas zu Leide getan. Sie hätten sie kennen sollen, sie … sie war irgendwie nicht von dieser Welt. Sie war einfach etwas Besonderes. Sie war die Frau, die ich mir immer gewünscht habe, die Frau, mit der ich alt werden wollte. Ich wollte mit ihr zusammen unsere Kinder aufwachsen sehen, wollte mit ihr irgendwann unsere Enkelkinder verwöhnen, am liebsten wäre ich auch mit ihr zusammen gestorben. Und jetzt? Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Es ist auf einmal alles so sinnlos geworden. Es gibt keine Zukunft mehr, wir werden nie mehr gemeinsam einschlafen, nie mehr zusammen frühstücken, nichts wird mehr sein, wie es noch vor drei Tagen war. Welches gottverdammte Schwein hat ihr das bloß angetan?« Er drehte sich um und sah Durant und Hellmer Hilfe suchend an. Er hatte keine Tränen mehr, er hatte sie alle in der vergangenen Nacht geweint. Julia Durant kannte das – weinen, trinken, rauchen, versuchen zu vergessen, zumindest war es bei vielen Angehörigen so, die sie im Laufe der Jahre kennen gelernt hatte.
    »Herr Müller, wir sind
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