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Der Hund des Todes

Der Hund des Todes

Titel: Der Hund des Todes
Autoren: Agatha Christie
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steil zum Bauen ist. Dennoch kleben dort ein paar Häuser am Hang, und das Haus des Doktors selbst erhob sich am äußersten westlichen Punkt der Steilklippe. Von dort blickte man direkt hinunter auf die hohen Wellen, die gegen schwarze Felsen brandeten.
    Das Häuschen, zu dem uns der Weg nun führte, lag dagegen weiter im Land, außer Sichtweite des Meeres.
    »Die Gemeindeschwester wohnt dort«, erklärte Dr. Rose. »Ich habe für Schwester Marie-Angélique bei ihr ein Zimmer besorgt. Es kann nicht schaden, wenn sie eine ausgebildete Pflegerin in der Nähe hat.«
    »Wirkt sie in ihrer Art ganz normal?«, fragte ich neugierig.
    »Das werden Sie gleich selbst beurteilen können«, antwortete er lächelnd.
    Die Gemeindeschwester, eine füllige freundliche kleine Frau, schwang sich gerade auf ihr Fahrrad, als wir ankamen.
    »Guten Abend, Schwester, was macht Ihre Patientin?« rief der Arzt.
    »Ungefähr das gleiche wie immer, Doktor. Sitzt mit gefalteten Händen da und ist in Gedanken irgendwo weit weg. Oft antwortet sie nicht einmal, wenn ich sie anspreche, obwohl man natürlich bedenken muss, dass sie selbst heute noch sehr wenig Englisch versteht.«
    Rose nickte, und während die Gemeindeschwester davonradelte, ging er auf die Haustür zu, klopfte energisch und trat ein.
    Schwester Marie-Angélique ruhte auf einer Chaiselongue neben dem Fenster. Sie wandte uns das Gesicht zu, als wir das Zimmer betraten.
    Sie hatte ein seltsames Gesicht – bleich, fast durchsichtig, mit riesigen Augen, in denen eine unendliche Tragik zu liegen schien.
    »Guten Abend, Schwester«, sagte der Arzt auf Französisch.
    »Guten Abend, Monsieur le docteur.«
    »Gestatten Sie, dass ich Ihnen einen Freund vorstelle – Mr Anstruther.«
    Ich verbeugte mich, und sie neigte leise lächelnd den Kopf.
    »Und wie geht es Ihnen heute?«, erkundigte sich der Arzt, während er neben ihr Platz nahm.
    »So ziemlich wie immer.« Sie verstummte kurz. »Alles erscheint mir so unwirklich. Sind es Tage, die vergehen, oder Monate – oder Jahre? Ich merke es kaum. Nur meine Träume sind Wirklichkeit für mich.«
    »Dann träumen Sie also immer noch so viel?«
    »Immerzu – immerzu – und, verstehen Sie, die Träume erscheinen mir wirklicher als das Leben.«
    »Sie träumen von Ihrem Heimatland – von Belgien?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich träume von einem Land, das es nie gegeben hat – niemals. Aber das wissen Sie doch, Monsieur, das habe ich Ihnen schon oft erzählt.« Sie hielt inne und fragte dann unvermittelt: »Doch vielleicht ist dieser Herr auch Arzt – vielleicht ein Arzt für Geisteskrankheiten?«
    »Aber nein«, antwortete Rose beruhigend. Als er lächelte, fiel mir auf, wie ungewöhnlich spitz seine Eckzähne waren. Ich fand plötzlich, dass der Mann etwas Wolfsähnliches an sich hatte.
    »Ich dachte bloß, es würde Sie vielleicht interessieren, Mr Anstruther kennen zu lernen«, fuhr Rose fort. »Er kann Ihnen von Belgien erzählen. Er hat unlängst Nachricht von Ihrem Kloster bekommen.«
    Ihre Augen hefteten sich auf mich. Eine schwache Röte stieg in ihre Wangen.
    »Es ist eigentlich nichts Besonderes«, sagte ich hastig. »Ich aß bloß neulich mit einem Freund zu Abend, und dieser hat mir bei der Gelegenheit von der Ruine des Klosters erzählt.«
    »Es liegt also in Trümmern!«
    Ein leiser Ausruf, der eigentlich mehr ihr selber galt als uns. Dann fragte sie zögernd: »Sagen Sie, Monsieur, hat Ihr Freund Ihnen erzählt, wie – auf welche Weise das Kloster zerstört wurde?«
    »Es flog in die Luft«, erwiderte ich und setzte hinzu: »Die Bauern fürchten sich, nachts dort vorbeizugehen.«
    »Warum fürchten sie sich?«
    »Wegen eines schwarzen Flecks an einer Wand der Ruine. Sie haben eine abergläubische Angst davor.«
    Sie beugte sich vor. »Sagen Sie mir, Monsieur – rasch, rasch – sagen Sie mir: Wie sieht der Fleck aus?«
    »Er hat die Form eines riesigen Wolfshunds«, antwortete ich. »Die Bauern nennen ihn den Hund des Todes.«
    »Ah!« Ein schriller Schrei entrang sich ihrem Mund.
    »Dann ist es also wahr – es ist wahr. All das, an was ich mich erinnere, ist wahr. Es ist kein Albtraum. Es ist geschehen! Es ist wirklich geschehen!«
    »Was ist geschehen, Schwester?«, fragte der Arzt sanft. Sie wandte sich voll Eifer ihm zu.
    »Ich erinnerte mich. Dort auf den Stufen erinnerte ich mich. Ich wusste wieder, auf welche Weise es zu geschehen hatte. Ich gebrauchte die Kraft, wie wir sie damals gebrauchten. Ich stand
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