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Der Hüter des Schwertes

Der Hüter des Schwertes

Titel: Der Hüter des Schwertes
Autoren: Duncan Lay
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nur um festzustellen, wie es sich anfühlte. Der Thronsaal war ein besonderer Ort für ihn. Er hatte viele schöne Erinnerungen an diesen Raum – und eine furchtbare. Aber das war der Grund, weswegen er nun hier war. Um diese Erinnerung auszulöschen und das Gefühl wiederzuerlangen, das er als Kind empfunden hatte. Er konnte sich noch daran erinnern, wie seine Mutter ihn hier hereingebracht und ihm gesagt hatte, dass das alles eines Tages ihm gehören würde. Säulen, die in eine hohe, gewölbte Decke übergingen, ein Boden aus Marmor, riesige Wandmalereien, die zeigten, wie König Riel den Drachen rettete, hohe Fenster, von denen aus man die vornehmen Stadtviertel überblicken konnte, und genug Platz für Hunderte von Menschen. Als Kind hatte er so oft davon geträumt, hier zu sitzen – fast jedes Mal, wenn seine Mutter mit ihm redete, hatten ihre Sätze mit »Sobald du König bist …« begonnen. Als er älter wurde, war es alles, woran er dachte. Dann war der vernichtende Tag gekommen – sein einundzwanzigster Geburtstag, der Tag, an dem er zum Mann erklärt wurde. Der Tag, der sein siegreichster Tag hätte werden sollen, an dem er das Drachenschwert hätte ziehen sollen. Seine Mutter hatte ihm eingeredet, es sei sein Geburtsrecht, sein Schicksal und so natürlich wie atmen. Aber das Drachenschwert hatte sich ihm verweigert. Die Erinnerung war noch frisch, der Schmerz noch roh, obwohl er so sehr versucht hatte, es zu vergessen, es zu vergraben. Der Thronsaal war voll gewesen. Jeder Adlige, jeder Offizier des Heeres und alle Freunde, die Gello hatte, waren gekommen, um diesen Moment mitzuerleben. Es war eine riesige Feier gewesen. Dann war der Moment gekommen, als er versuchte, das legendenumwobene Schwert zu ziehen, und kläglich gescheitert war. Die Jubelrufe und Gespräche waren verstummt, und eine grausame Stille hatte sich über den Saal gelegt. Sie alle sahen zu, wie der junge Gello vergeblich am Griff des Schwertes zog. Die Tränen liefen ihm übers Gesicht; Herzogin Ivene hatte vor Fassungslosigkeit und Zorn geschrien.
    Gello hatte nicht aufhören wollen, hatte immer weiter versucht, das Schwert zu ziehen, bevor sein Freund und Leibwächter Chelten an seine Seite getreten war, um der Demütigung ein Ende zu machen.
    Und kurz bevor er aus dem Thronsaal gebracht worden war, hatte er den Gesichtsausdruck seiner Cousine Merren gesehen. Es war ein Ausdruck boshafter Siegesgewissheit, denn sie würde nun Königin werden und den Thron besteigen, der ihm zustand.
    In diesem Moment, als seine Wangen vor Scham glühten und die Tränen ihm das Gesicht hinunterliefen, hatte sich alles geändert. Seine Pläne, Norstalos unbeschreiblich mächtig zu machen, waren vergessen. Stattdessen war er so zornig und verbittert gewesen, dass er beinahe laut losgebrüllt hätte. Er hatte sich geschworen, Rache zu nehmen. Nicht nur an Merren, sondern an allen. Er würde den Thron an sich reißen, komme da, was wolle. Er würde seine Schande vergessen machen. Dies war nicht der Tag, dessentwegen man sich seiner erinnern würde. Er würde nicht als Gello der Unwürdige in die Geschichtsbücher eingehen. Er würde es ihnen allen zeigen! Er würde zum machtvollsten König werden, den die Welt je gesehen hatte! Besser noch, er würde Kaiser werden! Er würde einen riesigen Kontinent regieren … und mehr!
    Dies wurde zur einzigen Sache, die ihm wichtig war. Wie er es machen würde, was er in die Wege leiten musste, um es möglich zu machen, das war ihm gleichgültig. Er würde nicht aufhören, ehe er nicht jede Spur seiner Demütigung ausgelöscht hatte. Nichts und niemand sonst war von Bedeutung.
    Und nun hatte er den ersten großen Schritt getan.
    Aber es war nicht genug. Er saß hier im Thronsaal und hörte das Gelächter immer noch in seinen Ohren widerhallen. Er spürte immer noch, wie die Erniedrigung ihm wie ein Kloß im Hals saß.
    Um das auszulöschen, musste er mehr unternehmen. Vor seinem geistigen Auge marschierten seine Heere in alle Himmelsrichtungen, zermalmten ihre Widersacher, bis sie sich unterwarfen, bis sie ihm Berge von Schätzen und reihenweise weinende Frauen brachten. Sein Name würde so bekannt werden, dass jedes Kind, selbst wenn es noch nie von Norstalos gehört hatte, seinen Namen kannte! Gello der Eroberer! Dann würde er vielleicht in der Lage sein, die Vergangenheit zu vergessen.
    Ein wenig bedauerte er es, dass seine Mutter seinen Sieg nicht mehr erlebte, aber im Grunde wog seine Erleichterung schwerer.
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