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Der Horizont: Roman (German Edition)

Der Horizont: Roman (German Edition)

Titel: Der Horizont: Roman (German Edition)
Autoren: Patrick Modiano
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war dieser Weg kürzer, wenn sie ihn zur Schule brachte.
    »Der Doktor hat mir eine Liste mit Büchern gegeben, die du vielleicht in deiner Buchhandlung für ihn suchen kannst.«
    Und sie reichte ihm einen zweimal gefalteten, himmelblauen Briefbogen mit den beiden Namen in filigranen Buchstaben: Doktor André Poutrel – Yvonne Gaucher.
    Laut Margaret hatte auch der kleine Peter nichts gemein mit den Kindern von Professor Ferne. Sie fragte sich, ob er wirklich der Sohn von Doktor Poutrel und Yvonne Gaucher war oder ob sie ihn adoptiert hatten. Ähnlich sah er keinem von beiden.
    In der École Montevideo hatte die Lehrerin zu Margaret gesagt, er sei unaufmerksam im Unterricht. Er verbringe seine Zeit damit, in einem Notizbuch aus Moleskin zu zeichnen, und höre nicht zu. Sie hatte weder Doktor Poutrel noch Yvonne Gaucher davon erzählt, aus Furcht, sie könnten mit ihm schimpfen. Doch sie hatte ihren Irrtum schnell bemerkt. Der Doktor selbst hatte ihm dieses Notizbuch aus Moleskin geschenkt, und sie hatte wiederholt gesehen, dass er es im Beisein des Kindes aufmerksam durchblätterte.
    Der kleine Peter hatte auch ihr das schwarze Notizbuch gezeigt. Porträts, Phantasielandschaften. Auf dem Heimweg von der Schule hakte er sie mit ernster Miene unter und ging sehr gerade und schweigsam neben ihr her.
    Erinnerungen in Gestalt treibender Wolken. Sie zogen nacheinander vorbei, sobald Bosmans sich auf seinem Diwan ausgestreckt hatte, am frühen Nachmittag, ein Diwan, der ihn an den früheren in Lucien Hornbachers Büro erinnerte. Er starrte an die Decke, als läge er im Gras einer Wiese und blickte den entschwebenden Wolken nach.
    An einem Sonntag hatten Doktor Poutrel und Yvonne Gaucher sie beide, Margaret und ihn, gemeinsam mit dem kleinen Peter zum Mittagessen eingeladen, in einem Raum der Wohnung, den Bosmans noch nicht kannte. Ein Gartentisch und dazu passende eiserne Stühle, im gleichen Hellgrün. Es wirkte, als wären Tisch und Stühle nur vorübergehend in diesem großen leeren Raum aufgestellt worden.
    »Wir kampieren noch ein bisschen«, hatte Doktor Poutrel gesagt. »Wir wohnen nicht lange hier.«
    Weder Margaret noch Bosmans war darüber erstaunt gewesen. Nach all den Jahren sagte sich Bosmans, dass es aussah, als wären Doktor Poutrel, Yvonne Gaucher und der kleine Peter in diese Wohnung eingebrochen und lebten hier illegal. Und wir beide, auch wir kampierten ohne die Erlaubnis von irgendwem. Aus welchem Grund hätten wir in unseren Leben diese unverwüstliche Sicherheit und dieses Gefühl von Rechtmäßigkeit haben sollen, die mir bei wohlgeborenen Menschen aufgefallen war, deren Lippen und Blick voller Selbstvertrauen zeigen, dass sie von ihren Eltern geliebt wurden? Im Grunde stammten wir, Doktor Poutrel, Yvonne Gaucher, der kleine Peter, du und ich, aus der gleichen Welt. Aber aus welcher?
    Yvonne Gaucher trug eine enge schwarze Hose und Ballerinas. Bosmans saß zwischen ihr und Margaret. Mit ihrem zum Pferdeschwanz gebundenen schwarzen Haar wirkte sie kaum älter als Margaret, und doch hatte sie Bosmans erst kürzlich zu verstehen gegeben, dass sie Doktor Poutrel seit den fernen Jahren der »Freunde und Freundinnen aus der Rue Bleue« kannte … Nach dem Dessert zeichnete der kleine Peter in seinem Notizbuch aus Moleskin.
    »Er porträtiert Sie«, hatte Doktor Poutrel zu Margaret gesagt.
    Das Wetter war schön an jenem Nachmittag. Sie waren bis in den Bois de Boulogne spaziert. Der Doktor hatte sich bei Yvonne Gaucher eingehakt. Peter lief vorneweg, und Margaret versuchte ihn einzuholen, damit er nicht allein über die Straße lief, ohne auf Grün zu warten. Bosmans war beeindruckt gewesen von Yvonne Gauchers Anmut und Lässigkeit am Arm von Poutrel. Er war überzeugt, dass sie Tänzerin gewesen sein musste.
    Sie waren am See angekommen. Yvonne Gaucher hätte gern mit dem kleinen Peter drüben auf der Insel eine Partie Minigolf gespielt, aber zu viele Leute warteten am Anlegesteg auf das Schiff, das von einem Ufer zum andern fuhr.
    »Nächstes Mal«, hatte Doktor Poutrel gesagt.
    Auf dem Heimweg lief der kleine Peter wieder vorneweg, doch Margaret hatte es aufgegeben, ihm nachzujagen. Er versteckte sich hinter einem Baum, und alle vier taten so, als würden sie ihn nicht sehen.
    »Und Sie, wie stellen Sie sich die Zukunft vor?« hatte Doktor Poutrel Bosmans und Margaret plötzlich gefragt.
    Yvonne Gaucher hatte über diese Frage gelächelt. Die Zukunft … Ein Wort, dessen Klang Bosmans heute quälend
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