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Der Himmel so fern

Der Himmel so fern

Titel: Der Himmel so fern
Autoren: Kajsa Ingemarsson
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und dem ebenso dunklen Wasser. Einen Moment lang blieb ich stehen, spürte den Wind im Gesicht, wie sich die Härchen auf meiner Haut aufstellten von der Kälte. War ich wieder oben? Ich war durcheinander, es war wie ein magischer Szenenwechsel im Theater.
    Als Erstes spürte ich eine riesige Erleichterung. Nichts war geschehen, ich hatte es doch nicht getan, und die Dankbarkeit, die ich in diesem Moment verspürte, war tiefer als alles, was ich je zuvor erlebt hatte.
    Ich begann zu lachen. Es sprudelte aus mir wie Kohlensäure aus einer frisch geöffneten Flasche. Wie das Wunder, das mir soeben widerfahren war, zustande kam, war mir völlig unklar, doch es stand außer Zweifel, dass etwas Großes geschehen war. Ich war nicht gesprungen.
    Der Abgrund vor meinen bloßen Füßen machte mich wahnsinnig. Ich wollte nur noch zurück, über das Geländer klettern, dieses Mal in die richtige Richtung. Wieder in die Schuhe schlüpfen, die Autotür öffnen und nach Hause fahren. Gleich auf dem Heimweg würde ich Mikael anrufen, bloß keine Zeit verlieren. Es war nicht zu spät, ich konnte alles noch ändern. Wenn ich es vorher nicht geglaubt hatte: Hier war der Beweis. Diese Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit vorgekommen waren, hatten alles in Frage gestellt. Was mir vorher in meinem Leben so schwerwiegend und aussichtslos erschienen war, dass ich sogar beschlossen hatte, ihm ein Ende zu setzen, war jetzt nicht besorgniserregender als ein Gewitter, dem man mit Gummistiefeln und Regenschirm begegnen konnte. Alles würde sich regeln.
    Wie dumm ich gewesen war. Wie hatte ich nur auf so eine verrückte Idee kommen können? Sich das Leben zu nehmen. Von einer Felsmauer zu springen, ohne die winzigste Chance auf Rettung. Warum hatte ich keine Tabletten geschluckt? Ich hätte meinen Arzt nur um ein neues Rezept bitten müssen. Hätte sagen können, die alten Tabletten halfen nicht mehr, ich könne nicht einschlafen, wache ständig wieder auf. Ich hatte einen aufreibenden Job, da waren Schlafprobleme an der Tagesordnung. Niemand hätte sich Gedanken gemacht.
    Ich muss völlig verzweifelt gewesen sein, dachte ich noch sonderbar distanziert, als ginge es hier gar nicht um mich, sondern um eine hoffnungslose Figur aus einem Film oder einer Erzählung. Ich versuchte, mich zu bewegen, um dieses Gefühl von Unwirklichkeit abzuschütteln. Reckte mein Gesicht gen Himmel, damit die Schneeflocken auf meiner Haut landeten und mir bestätigten, wo ich mich befand. Mit gebeugtem Nacken zwinkerte ich in den dunklen, sternlosen Himmel. Wenn es einen Gott gab, was nach diesem Erlebnis ja wohl kaum zu bezweifeln war, sollte ich künftig doch ein paar Stunden opfern und in den Gottesdienst gehen. Genau das dachte ich, während ich da stand und auf das Gefühl von nasser Kälte auf meiner Haut wartete. Vielleicht wäre auch eine großzügige Spende für einen wohltätigen Zweck angebracht. Nicht weil ich mich freikaufen wollte, ich könnte mich vielleicht auch selbst in einer Wohltätigkeitsorganisation engagieren. Etwas Sinnvolles
tun
. Eine Spendenaktion ins Leben rufen, an Obdachlose Essen ausgeben, in einer Suppenküche helfen, in einem Frauenhaus arbeiten, irgendetwas. Mir würde sicher etwas einfallen, wie ich meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen könnte.
    Auf dem Steinfundament des Geländers standen nach wie vor meine Schuhe. Die könnte ich ja als Erstes verkaufen, als eine Art symbolischen Akt. Auch wenn Secondhand-kleidung nicht viel einbrachte, würde ich vielleicht noch tausend Kronen dafür bekommen, möglicherweise mehr. Immerhin waren es Gucci-Pumps, so gut wie neu. Es gab Secondhandläden, die sich auf Designermarken spezialisiert hatten. Ich selbst war da noch nicht gewesen, bislang hielt ich nicht viel von Secondhandklamotten, aber vielleicht war das ein guter Anfang meiner Bußezeit, eine erste erniedrigende Handlung.
    Ich senkte den Kopf und blinzelte einige Male, noch immer hatte ich den Wind im Gesicht. Draußen auf dem Wasser sah ich die Lichter eines Schärgartendampfers auf dem Weg in die Stadt hinein. Was tat ich hier eigentlich? Was hatte ich eigentlich vor? Mit einem Mal war es keine Dankbarkeit mehr, die ich spürte. Stattdessen überkam mich ein Schuldgefühl, so stark wie eine erbarmungslose Flutwelle, die auf den Strand rollt. Es gelang mir nicht, mich in Sicherheit zu bringen, meine Lungen waren voller Wasser, ehe ich mich überhaupt umsehen konnte, wohin ich fliehen könnte. Nur Mikael sah ich. Wie er zu Hause auf
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