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Der Herzausreißer

Der Herzausreißer

Titel: Der Herzausreißer
Autoren: Boris Vian
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was ich schon auf mich genommen habe! ...«

27
    14. Märuli
    Durch die Lücken in den Hecken hindurch sah man das Vieh, wie es langsam und friedlich das niedrige Gras von den Feldern abweidete. Auf dem trockenen und verlassenen Weg war keine Spur mehr vom Hagel des Vortags. Der Wind schüttelte die Sträucher, und die Sonne sprenkelte die tanzenden Schatten mit ihren Lichttupfen.
    Auf alledem ließ Jacquemort aufmerksam seinen Blick ruhen; auf all diesen Landstrichen, die er nun bald nicht mehr sehen würde — der Tag kam näher, da er den Platz einnehmen musste, den das Schicksal ihm zugedacht hatte.
    »Wenn ich mich damals nicht auf dem Weg über die Steilküste befunden hätte«, dachte er. »Am 28. August. Und jetzt verhält sich das mit den Monaten so sonderbar — auf dem Lande ist die Zeit weiter gefasst, sie vergeht schneller und ohne merkliche Einschnitte.
    Und was habe ich nun eigentlich in mich aufgenommen? Was haben sie mir denn überhaupt zugestanden? Was konnten sie mir schließlich schon mitteilen?
    La Gloïre ist gestern gestorben, und ich werde seinen Platz einnehmen. Leer, wie ich war zu Anfang, befand ich mich zu schwer im Nachteil. Die Scham ist immerhin das am weitesten verbreitete Gefühl.
    Aber was hatte ich alles aufspüren, was hatte ich nur alles wissen wollen — warum versuchen, so zu sein wie sie — muß man ohne Vorurteile notwendigerweise zu diesem Ergebnis kommen, und zu keinem anderen?«
    Im Geiste stieg ein anderer Tag vor ihm auf, an dem die Malitten in den Lüften tanzten — und alle Schritte, die er auf dem allzu vertrauten Weg gemacht hatte, all die Schritte lasteten an seinen Beinen, und plötzlich fühlte er sich so schwer, nach so oft zurückgelegter Strecke: »warum denn braucht man so lange, bis man von der Stelle kommt, warum bin ich bloß im Haus am Steilhang geblieben — morgen muß ich es verlassen, um in La Gloïres Gold zu leben.
    Das Haus. Der Garten. Und dahinter die Steilküste und das Meer. Wo ist Angel nur«, fragte er sich, »wohin ist er gefahren auf diesem unsicheren Gefährt, das mitten in den Wellen tanzte?«
    Er ließ das goldene Gitter hinter sich, stieg den Pfad über die Steilküste hinunter und gelangte zum Strand, zu den feuchten Kieselsteinen mit dem frischen Duft und ihrem Fransenrand aus feinem Schaum.
    Kaum eine Spur von Angels Wegfahrt war verblieben. Nur ein paar geschwärzte Steine, noch vom Brand der Rampe her, das war alles. Mechanisch hob er den Blick. Und blieb wie angewurzelt stehen.
    Die drei Kinder liefen, so schnell sie konnten, am Rand der Steilküste entlang, ihre Umrisse waren durch Entfernung und Blickwinkel verkleinert. Sie rannten wie auf ebenem Gelände, unbekümmert um die Steinbrocken, die sich unter ihren Füßen lösten, unempfindlich gegenüber der Nähe des Abgrunds, offensichtlich von Wahnsinn erfaßt. »Eine ungeschickte Bewegung, und sie stürzen. Ein falscher Tritt, und ich muß sie zu meinen Füßen aufheben, mit gebrochenen Gliedern und blutüberströmt.«
    Der Zöllnerpfad, den sie entlangliefen, wies etwas weiter vorne eine unvermutete Bruchstelle auf. Keiner der drei verhielt sich so, als wolle er dort haltmachen. Zweifellos vergessen.
    Jacquemort krampfte die Fäuste zusammen. Schreien — und damit die Gefahr heraufbeschwören, dass sie stürzen? Sie konnten die Bruchstelle nicht sehen, die er von seinem Standort aus erkennen konnte.
    Zu spät. Citroën erreichte sie als erster. Jacquemorts Fäuste waren ganz weiß, und er stöhnte. Die Kinder wandten den Kopf in seine Richtung, sahen ihn. Und dann warfen sie sich in den Abgrund, beschrieben eine scharfe Flugkurve und setzten neben ihm am Boden auf, lachend und schwatzend wie Einmonatsschwalben.
    »Du hast uns gesehen, Onkel Jacquemort?«, sagte Citroën. »Aber du wirst uns nicht verraten.«
    »Wir haben gespielt und so getan, als könnten wir nicht fliegen«, sagte Noël.
    »Das macht Spaß, nicht wahr«, sagte Joël. »Wie wär’s, wenn du mit uns spieltest?«
    Jetzt begriff er.
    »Wart ihr das neulich mit den Vögeln?«, fragte er.
    »Ja«, sagte Citroën. »Wir hatten dich gesehen, weißt du. Aber weil wir gerade Schnellfliegen geprobt hatten, hielten wir nicht an. Und außerdem, weißt du, sagen wir es niemandem, dass wir fliegen. Wir warten, bis wir ausgezeichnet fliegen können, um Mami zu überraschen.«
    Um Mami zu überraschen. Und was für eine Überraschung die erst für euch auf Lager hat. Das ändert natürlich alles.
    Wenn es das ist, dann
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