Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Herzausreißer

Der Herzausreißer

Titel: Der Herzausreißer
Autoren: Boris Vian
Vom Netzwerk:
kollektivem Leben beseelt. Als sie vor der Sonnenscheibe vorbeiflogen, kniff er geblendet die Augen zusammen.
    Plötzlich bemerkte er in Richtung Meer drei etwas größere Vögel, die so schnell flogen, dass man ihre Gattung nicht zu bestimmen vermochte. Mit der Hand als Sonnenschirm über den Augen versuchte er, etwas Genaues zu erkennen. Aber die drei Flugwesen waren schon vorüber. Er sah sie hinter einem fernen Felsblock wieder auftauchen, wobei sie einen rasanten Bogen beschrieben und dann eines nach dem anderen gen Himmel stachen, immer noch mit der gleichen atemberaubenden Geschwindigkeit. Ihre Flügel mussten so schnell schlagen, dass er sie nicht ausmachen konnte — es waren drei längliche, spindelförmige, nahezu gleich aussehende Silhouetten.
    Die drei Vögel hielten in geschlossener Formation auf die Malitten zu. Jacquemort blieb stehen und schaute. Das Herz schlug ihm schneller, eine Gemütsbewegung, für die er keine Erklärung fand. Vielleicht war es die Leichtigkeit und Anmut der Neuankömmlinge — vielleicht die Furcht, sie könnten über die Malitten herfallen — vielleicht auch der Eindruck völliger Übereinstimmung, der von ihrer vollendet synchronen Flugbewegung herrührte.
    In steilem Winkel, entlang einem imaginären Luftabhang schossen sie hoch; ihre Geschwindigkeit raubte einem den Atem. »Nicht einmal Schwalben könnten ihnen folgen«, dachte Jacquemort. Und es mussten auch ziemlich große Vögel sein. Die Ungewissheit über die Entfernung, aus der er sie zuerst wahrgenommen hatte, erlaubte ihm nicht einmal eine annähernde Schätzung ihrer Größe; sie hoben sich aber vom Himmel unendlich deutlicher ab als die Malitten, die sich jetzt, fast an der Grenze der Wahrnehmbarkeit, wie Stecknadelköpfe auf dem grauen Samt des Himmels verloren.

22
    28. Oktember
    »Die Tage werden schon kürzer«, sagte sich Clémentine. »Die Tage werden kürzer, und man redet schon vom Winter und vom Frühling. In dieser Jahreszeit gibt es unendlich viele Gefahren, eine Unmenge neuer Gefahren, die man schon im Sommer mit Schrecken absieht, deren Einzelheiten sich einem aber erst in dem Augenblick erschließen, wo die Tage kürzer werden, wenn die Blätter fallen, wenn die Erde anfängt zu riechen wie ein nasser Hund im Warmen. Novanuar, Monat des kalten Nieselregens. Der fallende Regen kann eine Menge Unheil an allen möglichen Orten anrichten, er kann die Felder durch Sturzbäche verwüsten, die Hohlwege überschwemmen, die Raben vertreiben. Er kann auch plötzlich gefrieren, und Citroën bekommt eine doppelseitige Lungenentzündung; da liegt er und hustet und spuckt Blut, seine Mutter steht verzweifelt am Kopfende seines Bettchens und beugt sich über sein abgezehrtes armes Gesichtchen, das anzuschauen einem das Herz weh tut, und die anderen, ohne Aufsicht, nutzen das aus und gehen ohne ihr hohes Schuhwerk ins Freie, erkälten sich ihrerseits ebenfalls, jeder erwischt eine Krankheit anderer Natur, unmöglich, alle drei gleichzeitig zu kurieren, man läuft sich die Beine ab beim Hin- und Herlaufen von einem Zimmer zum anderen, aber sogar noch auf Beinstümpfen, auf Stümpfen, aus denen das Blut nur so auf die kalten Fliesen sprudelt, stürzt man sich mit dem Tablett und den Medikamenten von einem Bett zum anderen; und die Mikroben der drei verschiedenen Zimmer treiben durch die Luft und vereinigen sich unversehens, und aus dieser Dreierverbindung entsteht ein scheußlicher Bastard, eine monströse Krobe, auch mit bloßem Auge sichtbar, welche die besondre Eigenschaft besitzt, weiche, schreckliche Nervenknoten wachsen zu lassen, die wie gallertartige Rosenkränze an den Gelenken der darniederliegenden Kinder wuchern; und schon platzen die prallgefüllten Knoten auf, jawohl, und die Mikroben entströmen den Wunden, jawohl, da sieht man es wieder, was so ein Regen alles anrichten kann, der gräuliche Oktemberregen und der Novanuarwind, der ihn begleitet. Ach! Der Wind kann jetzt nicht mehr die schweren Äste von den Bäumen reißen und sie Unschuldigen auf die Köpfe schmeißen. Doch auch wenn der Wind sich rächt, das Meer mit seinem rauen Atem peitscht, und die Brandungswellen hochschlagen, über die ausgewaschene Steilküste hinausschießen? An eine klammert sich ein Tier, eine winzige Muschel. Joël schaut den Wellen zu, und (oh nichts! sie streift ihn kaum) die Muschel fliegt ihm ins Auge. Sowie sie hineingeflogen ist, fällt sie auch wieder heraus, er reibt sich mit dem Ärmel das Auge, es ist nichts,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher