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Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet

Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet

Titel: Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet
Autoren: Christopher Hitchens
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kritisch ein verstohlener Atheismus nachgesagt wurde. Bayle begleitete und verbrämte seine kritischen Aussagen allerdings stets mit eher orthodoxen Einlassungen, denen es wahrscheinlich zu verdanken ist, dass sein erfolgreiches Werk eine zweite Auflage erlebte. [FUSSNOTE72]
    Auch Voltaire schuf mit frommen Gesten ein Gegengewicht zur bissigen Verspottung der Religion und regte ironisch an, dass sein Grab – was machen sich die Leute für Gedanken über die eigene Beerdigung! – dereinst halb in und halb außerhalb der Kirche liegen solle. Allerdings verfasste er eine hochgelobte Schrift für die bürgerliche Freiheit und die Gewissensfreiheit, mit der er die posthume Rehabilitierung des ungerechtfertigt zum Tode verurteilten Jean Calas erreichte. Dieser war gefoltert, gerädert und verbrannt worden, weil er angeblich seinen Sohn umgebracht hatte, um diesen am Übertritt zum Katholizismus zu hindern. Voltaire wusste dank seiner eigenen Erfahrung mit der Bastille sehr wohl, dass nicht einmal er sich gänzlich in Sicherheit wiegen konnte. Das sollten wir nicht vergessen.
    Immanuel Kant hing eine Zeit lang dem Glauben an, alle Planeten seien bewohnt, und je größer die Entfernung zur Erde, desto besser der Charakter der Bewohner. Doch selbst aus seiner rührend beschränkten Kenntnis des Universums heraus konnte er überzeugende, vernunftgestützte Argumente gegen theistische Darstellungen vorbringen. Den guten alten teleologischen Gottesbeweis, damals wie heute ein Dauerbrenner, durfte man laut Kant so großzügig interpretieren, dass er einen Architekten zuließ, nicht aber einen Schöpfer. Den kosmologischen Gottesbeweis, nach dem die eigene Existenz eine andere Existenz voraussetzt, verwarf er, weil er lediglich das ontologische Argument wieder aufnehme. Den ontologischen Beweis wiederum machte er zunichte, indem er gegen die naive Vorstellung anging, Gott sei, wenn er als Idee wahrgenommen oder als Prädikat gesetzt werden könne, auch existent. Mit diesem überkommenen Quatsch räumt auch Penelope Lively in ihrem hochgelobten Roman Moon Tiger auf. Obwohl sie ihre Tochter Lisa als ein »langweiliges Kind« beschreibt, freut sich die Erzählerin doch über ihre überraschenden Fragen:
    »Gibt es Drachen?«, fragte sie. Ich sagte, nein. »Hat es denn mal welche gegeben?« Ich sagte, alles, was wir wüssten, deute auf das Gegenteil hin. »Aber wenn es das Wort >Drache< gibt, müssen doch auch Drachen da gewesen sein.« [FUSSNOTE73]

    Wer hat nicht schon ein unschuldiges Kind vor der Widerlegung einer solchen Ontologie bewahrt? Doch um zum Kern der Sache zu kommen und weil wir nicht ewig Zeit haben, erwachsen zu werden, halte ich mich doch lieber an Kant, der die Existenz eben nicht als Prädikat betrachtet: »Hundert wirkliche Taler enthalten nicht das Mindeste mehr, als hundert mögliche.« [FUSSNOTE74]
    Ich habe Kants Gegenbeweise hier in umgekehrter Reihenfolge angeführt, um den Bogen zu dem 1573 von der Inquisition in Venedig dokumentierten Fall eines gewissen Matteo de Vincenti zu spannen. De Vincenti erklärte, es sei unsinnig, an die Doktrin der Anwesenheit Christi in der Messe zu glauben: »Lieber würde ich daran glauben, dass ich Geld in der Tasche hätte.« [FUSSNOTE75]
    Kant wusste nichts von diesem seinem Vorläufer aus dem gemeinen Volke, und als er zum dankbareren Thema Ethik überging, wusste er vielleicht auch nicht, dass sein »kategorischer Imperativ« ein Echo der »Goldenen Regel« des Rabbi Hillel ist. Kant fordert: » Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.« [FUSSNOTE76]
    Diese Aussage zum gegenseitigen Interesse und zur Solidarität macht eine durchsetzende oder übernatürliche Macht hinfällig. Wozu sollte sie auch da sein? Der menschliche Anstand leitet sich nicht aus der Religion ab. Er geht ihr voraus.
    Es ist sehr interessant, dass in der Aufklärung im 18. Jahrhundert viele große Denker ähnliche und einander überschneidende Gedanken verfolgten, dabei aber große Sorgfalt darauf verwendeten, sie vorsichtig zu formulieren oder so weit wie möglich auf einen kleinen Kreis gebildeter Gleichgesinnter zu beschränken. Als Beispiel möchte ich Benjamin Franklin anführen, der die Elektrizität zwar nicht entdeckte, aber zu denen gehörte, die ihre Prinzipien und praktischen Anwendungen erforschten. Zu Letzteren gehörte der Blitzableiter, der die Frage, ob Gott uns mit plötzlichen und willkürlichen Blitzschlägen
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