Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe
Autoren: Judith Schalansky
Vom Netzwerk:
das Vater ihr von einer Dienstreise mitgebracht hatte. Was gab es anderes als das Hier? Wie alt mochte sie gewesen sein? Noch im Kindergarten. Aber für die Zinkwanne schon zu groß. Die Beine hingen raus, die Füße im Trockenen. Diese Frage immer. Der Blick zur Decke, ins Licht. Die Lampe, eine gleißende Kugel aus Milchglas am Ende einer langen Stange. Keine Antwort. Nicht mal ein Ansatz. Nichts. Leerlauf der Gedanken. Sie konnte es sich einfach nicht vorstellen. Und wie sie dachte: Das lerne ich bestimmt in der Schule.
    Jetzt Seitenwechsel. Zurück auf Los. Rote Wangen. Außer Atem. Einige schwitzten sogar. Alle wieder auf dem Spielfeld. Geteilte Freude. Noch mal von vorn.
    Claudia war meistens allein gewesen. Freunde hatte sie nicht gehabt. Obwohl sie sich immer darum bemüht hatte. Ihre Zensuren waren gut. Das Zeugnis. In der ersten oder zweiten Klasse: Claudia fällt es schwer, ihre positiven Ansichten im Klassenkollektiv durchzusetzen. Im Klartext: Sie war nicht beliebt.
    Manchmal kam sie verweint nach Hause. Dann hatten sie wieder irgendwas mit ihr angestellt. Einen Bleistift zerbrochen, in den Pullover Löcher gerissen, so groß, dass sie nicht zu stopfen waren, den Kugelschreiber geklaut, den, der in allen Farben schreiben konnte. Aber gewehrt hat sie sich nie.
    Auch nicht an jenem Freitag, in der vorletzten Stunde. Keiner war mehr bei der Sache. Der Unterricht begann. Claudias Platz war leer. In der dritten Reihe. Weit weg vom Lehrertisch, weit weg von ihr. Irgendwann kam sie. Die Tür nur einen Spalt weit offen und Claudia huschte herein. Sie sah mitgenommen aus. Es musste etwas vorgefallen sein. Die Haare vorm verheulten Gesicht. Sie ignorierte die Blicke und schleppte sich an ihren Platz. Und dann war irgendwas. Sie selbst stand mit dem Rücken zur Klasse, schrieb etwas an die Tafel, als Claudia plötzlich aufschrie. Markerschütternd. Unglaublich laut. Sie drehte sich um. Claudias Tisch war verrückt. Ihr Biobuch lag auf dem Boden. Claudia stand auf. Lief nach vorn. Direkt auf sie zu. Sie hatte die Schultern hochgezogen, den Kopf geduckt. Sie wimmerte: Mama. Ihre ausgebreiteten Arme. Und sie? Was willst du von mir? Das waren ihre Worte. Ein Stoß. Von sich weg. Was wollte sie von ihr? Claudia fiel. Blieb liegen. Weinte immer noch. Wie sie da auf dem Boden lag. Sich krümmte. Im Gang, zwischen den Bänken und Stühlen. Mitten in der Klasse. Wie ihr Körper zuckte. Sie bekam kaum Luft. Verschluckte sich an ihren Tränen. Die Augen geschlossen, die Lippen aufeinandergepresst. Sie hörte nicht auf zu wimmern. Mama. Immer wieder: Mama. Ein kleines Kind. Claudia schrie nach ihr. Vor der ganzen Klasse. Natürlich war sie ihre Mutter. Aber zuallererst ihre Lehrerin. Sie lag nur da und konnte sich nicht beruhigen. Niemand ging zu ihr. Niemand tröstete sie. Auch sie nicht. Es ging nicht. Vor der ganzen Klasse. Nicht möglich. Sie waren in der Schule. Es war Unterricht. Sie war Frau Lohmark.
    Ein Windstoß. Die wippenden Zweige. Die Beine fühlten sich taub an. Wieder Seitenwechsel. Einige hatten schon kurze Hosen an. Ihre nackten Kinderknie. Unversehrt. Die gewölbte Scheibe unter der Haut. Blanke Waden. Füße in Turnschuhen. Spuren im Sand. Angespannte Muskeln. Gestreckte Arme. Der Ball flog hoch, viel zu weit. Weit weg. Ein kurzer Sprint. Wieder im Spiel. Sie wurden nicht müde. Ein Ball, zu hart. Die Abgeworfene ging traurig vom Platz. Umarmte ein Mädchen hinter der Linie. Geteiltes Leid. Ihre Augen, die dem Ball folgten.
    Von der Wallseite eine Menschengruppe, die über den Schulhof trottete. Gebückter Gang. In Zweierreihen. Ein kleiner Umzug in Richtung Hauptgebäude. Rentner auf dem Weg zu ihrem Kurs. Freitags begannen sie schon mittags.
    Sie klatschte in die Hände.
    »Sehr schön. Schluss für heute.«
    Sie stützten sich auf ihren Knien ab. Rangen nach Luft. Nahmen noch einmal Aufstellung.
    »Bis nächste Woche.« Bis irgendwann.
    Wolfgang war nicht zu sehen. Wahrscheinlich war er im Stall der Jungvögel. Oder drüben bei der Brutmaschine. Die Sonne war hinter einer Wolke verschwunden. Auf der linken Seite die Gehege der Zuchttrios. Ein Hahn trat aus dem Verschlag, stakste über die Weide. Eine graubraune Henne hinter ihm her, in gebührendem Abstand. Beide gemächlich, ein wenig wacklig, als ob sie hochhackige Schuhe anhätten. Zwei laufende Lampenschirme. Sie streckten den Hals beim Schreiten leicht nach vorn und zurück, immer in Bewegung, das Gleichgewicht suchend. Wie eine Marionette. An
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher