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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe
Autoren: Judith Schalansky
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unsichtbaren Fäden. Jede Regung des Körpers wurde mit diesem Hals vorweggenommen.
    Zwei Wüstenvögel, die alles beäugten und gedankenlos in die Weite starrten. Steppentiere. Das passte. Das hier war ja nichts anderes als Steppe. Aus Afrika kamen nicht nur die Giraffe und der Strauß, sondern auch der Mensch. Aber diese Strauße waren hier geboren, ihre Heimat hatten sie nie gesehen. Sie war ja auch noch nie in Afrika gewesen.
    In Demmin gab es neuerdings sogar eine Störzuchtanlage zur Kaviargewinnung. Direkt für den russischen Markt. Immerhin: Zwanzig Arbeitsplätze. Kleinvieh macht auch Mist. Und irgendwo in Brandenburg graste eine kleine Herde Wasserbüffel in sumpfigen Seeauen. Alles Gastarbeiter. Die Kartoffel war schließlich auch ein Import.
    Selbst in kargen Gegenden konnten sich die Strauße ernähren. Das Klima bekam ihnen. Nur im Winter wurde es schwierig. Da war es zu kalt, um die Tiere im Freien zu halten. Und einsperren ließen sie sich nicht. Für ein, zwei Tage vielleicht. Aber nach drei Tagen waren sie drauf und dran, auszubrechen. Das hielten sie nicht aus. Es waren eben Laufvögel.
    Die andere Henne knickte die Beine ein und hockte sich unter dem Bretterverschlag auf ihre Reptilienfüße. Auf der Brust liegend, fing sie an, sich im Sand zu baden. Sie wand den Hals auf dem Boden wie eine Schlange und scharrte mit den kurzen Flügeln die staubigen Körner zum Körper. Die anderen beiden wanderten jetzt am Zaun entlang, den Wolfgang an den Ecken abgefälscht hatte. Der Hahn kam näher. Er steckte den Kopf durch die Maschen. Sie waren groß genug, damit der kleine Schädel durchpasste. Alle Vögel suchten Schlupflöcher, um sich darin zu verstecken, und selbst niedere Tiere wussten Kraft und Ausmaß ihres Körpers richtig einzuschätzen. Aber nicht die Strauße. Mit aller Gewalt versuchten sie ihre Köpfe durch Drahtschlaufen und Holzspalte zu zwängen. Der Verkriechinstinkt. Man musste sich den Straußen immer mit Demut nähern. Die verknorpelten Zehen im braunen Schlamm. Die Schenkel mit langen, weißen Borsten besetzt, fette Poren, eine Gänsehaut. Der fusselige, weiße Unterrock unterm schwarzen, nachgiebigen Gefieder. Kurze, nutzlose Flügel. Seine Bewegungen, von einem Grasbüschel zum anderen, ruckartig und wendig, immer unentschieden, immer schwankend zwischen Neugier und Misstrauen. Seine behaarten Nasenlöcher. Der Flaum auf dem winzigen Kopf. Das Auge war wirklich schön. Zwei gekugelte Äpfel im kleinen Schädel. Groß, schwarz, glänzend. Die langen, dunklen Wimpern. Der Blick, aufmerksam und geistlos.
    Irgendwo das Quietschen einer Schubkarre. Sofort zog der Strauß seinen Kopf zurück. Streckte den Hals. Die weißen Schwanzfedern gingen in Alarmstellung, das Drohkleid. So stürmte er davon, schaukelte dummscheu über die schlammige Weide.
    Jetzt ein lautes Poltern aus dem Stall gegenüber. Das Tor öffnete sich, und eine Herde Jungvögel stürmte ins Freie, drängelnd, im Galopp, mit raumgreifenden Schritten. Pferdeschnell. Die Hälse wie Pendel. Ein Tier spreizte die Flügel, und alle anderen taten es ihm nach. Das ganze Rudel breitete die Flügel aus. In immer enger werdenden Kreisen liefen sie hin und her und schlugen mit den Stummelflügeln, als ob sie abheben wollten. Ein Pirouettentanz.
    Lautes Gekrächze. Ein Schwarm Krähen, der plötzlich vom Himmel zu fallen schien. Ein Licht wie in einem Film, aufgeblendet, alles wie angestrahlt. Die Wolken, fest umrissen. Unerträglich, aber schön. Der Geruch von Erde. Die Strauße tanzten über die Weide. Inge Lohmark stand am Zaun und schaute.
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