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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe
Autoren: Judith Schalansky
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Angeblich sogar Selbstmordgedanken. Bis auf Weiteres krankgeschrieben. Wieder mal. Lauter Kästchen. Konsequenzen. Alles seine Richtigkeit. So machte man das bei uns. Und hier war jetzt bei uns. Alles seine Ordnung. Ganz ruhig. Die Ruhe vor dem Sturm. Nach dem Sturm. Ihre Schritte, sehr laut. Was machte die Vorschrift? Endstation. Das war nicht ihre Sache. Was hatte sie damit zu tun? Nichts. Jeder war für sich selbst verantwortlich. Irgendwo Kinderstimmen. Natürlich war das ihre Schuld. Wohin also? Zurück. In die Klasse. Weitermachen. Dienst und Vorschrift. Was blieb ihr auch anderes übrig. Übrig blieb nichts. Alles würde verschwinden. Früher oder später. Meistens plötzlich. So wie jetzt.
    Draußen die Rakete an der Wand. Hoch hinaus. Der Himmel, immer noch unerträglich blau. Dicke, weiße Wolken. Zur Straßenseite der Flieder, der bald blühen würde. Die Schneebeeren, vertrocknete Knallerbsen. Ellen auf einer Bank. In den Pflasterritzen Kippen. Das Fachgebäude. Die bemalten Scheiben des Kunstraums.
    Nach drei Treppenstufen schon außer Atmen. Wo war ihre Kondition? Die Quallen, schillernd und überirdisch schön wie eh und je. Das Rauschen der Klospülung. Kevins Stimme. Lautes Lachen. Plötzlich wieder Stille, als sie den Biologieraum betrat.
    Da waren sie wieder. Neben der Tafel: Die zwei Giraffenherden, die gegeneinander antraten. Lange Hälse gegen kurze Hälse. Wer von ihnen würde gewinnen? Zur Giraffe werden, zum Wundertier. Ein Kopf, zwei Meter über dem Herzen. Es musste sehr stark sein, dass es literweise Blut durch diesen Hals ins Hirn pumpen konnte. Nur sieben Knochen, aber meterlang. Das höchste aller landlebenden Säugetiere. Die richtige Strategie. Alles hatte seine Wirkungen, seine Konsequenz. Noch fünf Minuten bis zur Pause. Immer noch Unterricht. Also gut.
    »Wie Sie sehen, brauchten die Vorfahren der Giraffen einen längeren Hals, um an die hohen Blätter der Bäume heranzukommen. Sie müssen eher wie Antilopen oder Hirsche ausgesehen haben. Stellen Sie sich also diese Tiere vor, wie sie in der Zeit der Dürre unter den Akazienbäumen stehen und sich strecken. Vielleicht bäumen sie sich sogar auf, versuchen hochzuspringen, weil sie so großen Hunger haben. Natürlich ist klar, dass diejenigen unter ihnen, die schon von Natur aus einen etwas längeren Hals haben, größere Überlebenschancen haben. Eben, weil sie an das Futter kommen, das ihnen keiner streitig machen kann. Es ist also ganz einfach: Wer den längeren Hals hat, lebt auch länger. Und je länger man überlebt, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass man es schafft, sich fortzupflanzen. Und natürlich werden viele Tiere – auch die mit den nicht so langen Hälsen – sich anstrengen, an diese Blätter zu kommen. Jeden Tag werden sie es erneut versuchen. Lauter Tiere, die sich abmühen, ihr Ziel zu erreichen, das ja direkt vor ihrer Nase ist. Jeden Tag werden sie trainieren und es sich zur Gewohnheit machen, sich nach den Blättern zu strecken. Und diese Gewohnheit wird ihnen langsam aber sicher zur Lebensweise. Und irgendwann wird sich das auszahlen. Bei ihren Kindern und Kindeskindern. Der Hals, er verlängert sich. Langsam, aber stetig. Stück für Stück. Und diese unermüdliche und über Generationen andauernde Anstrengung geben alle natürlich an ihre Nachkommen weiter, die sich wiederum auch anstrengen werden. Und so kommt eins zum anderen. Und die Giraffe zu ihrem langen Hals. Und alle anderen, alle die, die sich nicht genug angestrengt haben, die bleiben kurzhalsig und gehen jämmerlich zugrunde. Wir alle werden von unserer Umwelt dazu gezwungen, uns anzustrengen. Wir alle versuchen, an die schwer erreichbaren Blätter heranzukommen, an all die Früchte, die besonders hoch hängen. Man muss ein Ziel vor Augen haben. Dann ist Training alles. Die Giraffe hat ihren langen Hals bekommen, weil sie ihn immer nach noch höheren Blättern gereckt hat und sich der Hals durch diese hartnäckige Anstrengung, durch diese unbeirrbare Gewohnheit allmählich dehnte, genauso wie wir Muskeln bekommen, wenn wir Sport treiben. Das Leben ist ein Recken und Strecken. Für jeden Einzelnen von uns. Das Ziel scheint manchmal zum Greifen nah. Aber wir müssen uns eben anstrengen, um es tatsächlich zu erreichen. In jedem von uns steckt der Drang zu Höherem, zur Höherentwicklung. Und wenn man bestimmte Teile des Körpers, einzelne Organe besonders beansprucht, dann werden diese durch andauernde, beharrliche Forderung
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