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Der Gute Ton 1950

Der Gute Ton 1950

Titel: Der Gute Ton 1950
Autoren: Hans H. Wiese
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vielmehr im
    Weitergehen, oder besser Weitersteigen sogar noch galante
    Komplimente machen. Es empfahl sich jedenfalls, die Treppe vorher
    zwei bis dreimal zur Probe hinaufzusteigen, um mit dem
    »Operationsfeld« vertraut zu werden. Wie leicht hätte ein einziger
    Fehltritt die Ursache sein können, dass der ritterliche Herr die Treppe
    in rasendem Tempo wieder »hinunterging«. Wenn der Herr mit einer
    Unbekannten an einer Treppe sich traf, musste er hinter einer Säule
    versteckt warten, bis die Dame den ersten Treppenabsatz erreicht
    hatte. Dann erst durfte er hinaufsteigen — vorausgesetzt, dass das
    Schamgefühl jener Zeit diese Entfernung für genügend gross hielt!
    Man kann den Grund zu diesen Vorschriften nur schwer verstehen,
    wenn man an die weibliche Mode jener Jahre denkt. Wie konnte die
    Mode jener Zeit eine Frau gewagt erscheinen lassen? Man weiss nicht,
    ob diese Sitte zu viele Unfälle auf der Treppe verursachte, oder ob das
    Schamgefühl nachgelassen hat. Jedenfalls ist sie für uns nur noch eine
    heitere Erinnerung.
    Es bestehen heute keine besonderen Vorschriften mehr für das
    Treppensteigen. Ein Herr sollte aber an einem Treppenabsatz warten,
    wenn eine Dame oder ein älterer Herr ihm entgegen kommt, es ist
    höflicher als sich auf der Treppe aneinander vor-überzuschlängeln. Ein
    Herr nimmt seinen Hut ab, wenn er jemandem im Treppenhaus
    begegnet, er überlässt auch stets die Geländerseite der Dame oder
    einem älteren Herrn.
    IN EINEM FAHRSTUHL.
    Im Fahrstuhl sind die Regeln ungefähr die gleichen wie auf der
    Treppe. Wenn schon jemand in dem Fahrstuhl ist, grüsst man beim
    Eintreten. Ehe man sich anschickt, einen Fahrstuhl in Bewegung
    zu setzen, sollte man sich vergewissern, ob nicht jemand nachkommt.
    Wäre dies der Fall, so müsste man warten, bis die betreffende Person
    den Fahrstuhl bestiegen hat. Es ist für die anderen genau so
    unangenehm wie für einen selbst, einen Fahrstuhl gerade vor der Nase
    verschwinden zu sehen. Eine Frau soll nicht denken, dass der Mann
    unbedingt verpflichtet ist, ihr den Vorrang zu lassen oder zu grüssen.
    Sie dankt aber für seine Liebenswürdigkeit mit einem freundlichen
    Blick — denn männliche Höflichkeit braucht diese bescheidene
    Ermunterung.
    IM WAGEN.
    Es kann vorkommen, dass wir in den Wagen eines Unbekannten
    steigen, besonders wenn wir lieber auf der Strasse ein Auto anhalten
    als zu Fuss zu gehen. Autostop ist eine der burschikosesten und
    ungeniertesten Sitten, die aus Uebersee zu uns gekommen sind. Sie
    war in den Regeln des guten Tons nicht vorgesehen, sie wäre bestimmt
    verboten worden. Es kann aber immer einmal ein Fall eintreten, dass
    wir in den Wagen eines Unbekannten einsteigen. Wir dürfen dann
    nicht vergessen, dass das Auto beinahe wie das Zuhause eines
    Menschen zu betrachten ist. Ein Herr nimmt seinen Hut ab, wenn er
    einem fremden Wagen besteigt, und eine Dame grüsst höflich.
    Auch wenn der Fahrer des Wagens der »Herr im Hause« ist, sollte er
    nicht glauben, dass die Strasse ihm gehört und die Fussgänger nur
    erfunden wurden, um seine Schikanen zu erdulden. Es ist
    überraschend, wie sich die Sprache eines gebildeten Menschen
    wandelt, sobald er die Hand am Steuer hat. Wenn ein Fussgänger oder
    ein Fahrer die Verkehrsregeln vergisst, ist das Opfer dem Schuldigen
    gegenüber nicht von allen Höflichkeitspflichten befreit. Die
    Fussgänger sollen dagegen nicht alle Autofahrer für Mörder halten
    und jedesmal laut fluchen, wenn sie ihr Leben in Gefahr glaubten.
    Wenn wir auf der Landstrasse einem Wagen begegnen, der eine
    Panne hat, muss der Besitzer nicht unbedingt ein Jugendfreund von
    uns sein, damit wir ihm für einige Minuten ein Handwerkszeug zur
    Reparatur leihen. Wir können ihm Ratschläge geben, wenn sie richtig
    sind und keine neuen, grössere Schwierigkeiten schaffen. Wir müssen
    auch gewillt sein, die nächstgelegene Garage zu benachrichtigen, wenn
    wir nicht anders helfen können.
    IM OMNIBUS UND IN DER STRASSENBAHN.
    Der Kampf um das tägliche Beefsteak hat die Pflichten eines
    Gentleman in der Strassenbahn oder im Omnibus geändert. Ein Mann
    muss seinen Platz nicht mehr einer Dame abgeben, er hat auch das
    Recht, seine Kräfte zu schonen und einen Sitzplatz zu schätzen. Er
    überlässt seinen Platz natürlich einer älteren Dame oder einem
    Verletzten, die ihm höflich danken. Es ist vielleicht die Schuld der
    Damen, wenn eine für sie günstige Sitte heute nicht mehr allgemein
    geachtet wird:
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