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Der Gute Ton 1950

Der Gute Ton 1950

Titel: Der Gute Ton 1950
Autoren: Hans H. Wiese
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wenn man ihnen seltener und seltener einen Sitzplatz
    anbietet, so kommt es mit daher, dass viele Damen die ihnen erwiesene
    Ritterlichkeit als selbstverständlich betrachteten. Sie drückten ihren
    Dank durch einen Blick aus, der deutlich sagte: »Ich wusste wohl, dass
    ich wieder einen Dummen finden würde, der mir seinen Platz abgibt«.
    Ein Mann, der eine Strassenbahn oder einen Omnibus besteigt, ist nicht
    verpflichtet, die Frauen vor ihm einsteigen zu lassen. Wenn die Reihe
    an ihn kommt, muss er nicht zurücktreten. Niemand muss sich in
    diesem Fall an Regeln halten, es ist und bleibt eine höfliche Geste,
    wenn man seinen Platz anbietet, oder beim Einsteigen einer Dame den
    Vortritt lässt.
    IN DER EISENBAHN.
    Ein Zugabteil ist kein Zimmer Ihrer Wohnung, und Sie haben nur
    Anrecht auf den Teil des Netzes über Ihrem Sitzplatz. Die Eisenbahn
    hat Ihnen mit Ihrer Fahrkarte nicht zugleich das Recht verkauft, die
    Sitzbank in eine Fussstütze oder in ein Bett zu verwandeln, besonders
    wenn der Zug sehr besetzt ist. Wollen wir doch nicht die durchsichtige
    Lüge gebrauchen, dass ein Abteil besetzt sei, in dem wir allein sitzen.
    Niemand wird es uns glauben. Wenn uns jemand seinen Platz für eine
    Weile »leiht«, müssen wir ihn zurückgeben, sobald wir merken, dass
    der Eigentümer ermüdet ist. Er soll uns nicht daran erinnern müssen,
    dass wir auf seinem Platz sitzen. Da nutzt auch die kleine Komödie
    nichts, dass wir uns eingeschlafen stellen!
    Es ist unnötig, unserem Fahrt- und Schlafwagengenossen unsere
    besondere Sympathie zu bekunden. Im Schlafwagen sind Sie nicht
    verpflichtet, mit Ihrem Schlafgenossen das Bett zu tauschen, wenn es
    ihm passt. Die Betten sind numeriert, und Sie halten sich an die
    vorgesehene Ordnung. Aber Sie lassen Ihrem Schlafgenossen die Wahl,
    sich vor oder nach Ihnen auszukleiden oder zu waschen. In der
    Eisenbahn haben die Reisenden, die frieren, das Vorrecht vor denen,
    die zu ersticken glauben. Auch der Schaffner wird auf Seiten der
    Frierenden stehen. Er ist auch überzeugt, dass man eher an einer
    Lungenentzündung als an einem Dampfbad stirbt.

    Es gibt Reisende, die im Zug an einer seltsamen Krankheit leiden.
    Sobald die Lokomotive anfährt, entdecken sie einen Riesenhunger. Sie
    finden anscheinend keinen geeigneteren Rahmen für ein Festmahl als
    ein Zugabteil. Sie hören nicht eher auf zu tafeln, als bis das Abteil voll
    fettiger Papiere ist, bis Sitzbänke und alle Mitreisenden mit
    Brotkrumen übersät sind und Wein überall verschüttet
    ist. Vor einigen Jahren hätte man gesagt, dass diese Menschen die
    Moral der Bevölkerung durch den Beweis, dass die Rationen Gott sei
    Dank noch erträglich seien, zu heben versuchten, obwohl sie sich
    zwischen zwei Bissen über die Hungerszeit zu beklagen pflegten. Der
    wieder ins Leben gerufene Speisewagen hat diese Rasse der ewig
    kauenden Reisenden nicht verschwinden lassen. Man muss sich auch
    fragen, welcher Speisewagen diesen aus-serordentlichen Appetit stillen
    könnte! Es ist keineswegs unschicklich im Zug zu essen, aber es ist
    angebracht, Esswaren zu wählen, die man unauffällig verzehrt, wie
    zum Beispiel belegte Brötchen. Man kann Sekt anderswo als in einem
    Zugabteil trinken.
    IM HOTEL.
    Bei nachtschlafener Zeit sollten wir unsere Mitmenschen nicht durch
    Lärm auf unsere Anwesenheit aufmerksam machen. Wir müssen
    unbedingt Rücksicht nehmen. Wir wollen uns auch nicht auf das
    Klavier im Empfangsraum stürzen, um jedermann wissen zu lassen,
    dass wir ein zweiter Pade-rewski sind. Die Hotelverwaltung ahnt diese
    Gefahr und verschliesst das Klavier. Wenn Sie nicht durch Ihren Pass
    beweisen können, dass Sie Walter Giese-king sind, bleibt Ihnen keine
    grosse Hoffnung, dass die Lärmmaschine für Sie geöffnet wird. Wir
    sind nicht zu Hause! Man sagt, man erkenne einen Gentleman daran,
    dass er im entferntesten Land oder in einem Hotel dritten Ranges
    niemals der Versuchung unterliegt, seine Schuhe am Vorhang seines
    Zimmers zu putzen.
    DIE PUENKTLICHKEIT.
    Wenn es wahr ist, dass die Pünktlichkeit die Höflichkeit der Könige
    ist, dann wollen wir immer königlich sein. Denken wir daran, dass
    wir Schauspielern oder Musikern Rücksicht schulden wie auch den
    Zuschauern, die zeitig erschienen und wahrscheinlich ebensoviel gute
    Gründe wie wir gehabt hätten, zu spät zu kommen. Der französische
    Dramaturg und Humorist Tristan Bernard wohnte einmal einem
    Festessen bei, zu dem ein Gast mit einer knappen Stunde
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