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Der Grüne Strahl

Der Grüne Strahl

Titel: Der Grüne Strahl
Autoren: Jules Verne
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des
    Schnitts ihrer einfachen, hinter der Mode des Tages stets
    etwas zurückbleibenden Kleidung, wie der Wahl der Stoffe
    aus vorzüglichem englischen Tuch genau denselben Ge-
    schmack verrieten? Nur der eine kleine Unterschied – wer
    hätte den Grund dazu erklären können? – bestand zwi-
    schen ihnen, daß Sam die dunkelblaue, Sib dagegen die kas-
    tanienbraune Farbe zu bevorzugen schien.
    — 7 —
    Wer hätte mit diesen ehrenwerten Gentlemen nicht gern
    auf vertraulichem Fuß gestanden? Gewohnt, im Leben im-
    mer gleichen Schritts zu gehen, machten sie einst gewiß
    auch einer unfern dem andern halt, wenn ihnen das Stünd-
    lein der ewigen Ruhe schlug. Immerhin konnte man diese
    beiden letzten Pfeiler der Familie Melvill noch als recht so-
    lide bezeichnen. Sie hielten gewiß noch lange Zeit das alte
    Gebäude ihres Geschlechts aufrecht, das dem 14. Jahrhun-
    dert entstammte, der epischen Zeit eines Robert Bruce und
    eines Wallace, der Heldenepoche, in der Schottland noch
    mit England um seine Unabhängigkeit rang.
    Wenn Sam und Sib aber auch keine Gelegenheit hatten,
    für das Wohl des Vaterlands zu kämpfen, wenn ihr minder
    bewegtes Leben unter dem Segen friedlicher Ruhe verlief,
    den ein behäbiges Vermögen verleiht, so darf man ihnen
    daraus weder einen Vorwurf machen, noch sie für entartet
    halten wollen. Sie setzten eben in ihrem Bestreben, Gutes zu
    wirken, die edlen Überlieferungen ihrer Vorfahren fort.
    Beide kerngesund, ohne daß sie sich den Vorwurf ir-
    gendeiner Unregelmäßigkeit der Lebensweise zu machen
    hatten, schienen sie bestimmt, hohe Jahre zu erreichen,
    ohne jemals, weder an Geist noch an Körper, zu altern.
    Vielleicht hatten sie einen Fehler – wer könnte sich rüh-
    men, ohne einen zu sein? –, sie verbrämten ihre Unterhal-
    tung gern mit zahlreichen, dem berühmten Burgvogt von
    Abbotsford entlehnten Bildern und Zitaten, und besonders
    auch mit solchen aus den epischen Dichtungen Ossians, in
    die sie geradezu vernarrt schienen. Doch wer könnte ihnen
    — 8 —
    im Land Fingals und Walter Scotts daraus einen Vorwurf
    machen?
    Um ihr Porträt mit einem letzten Pinselstrich zu vollen-
    den, müssen wir noch hinzufügen, daß sie starke Schnupfer
    waren. Jedermann weiß ja wohl auch, daß die Tabakshand-
    lungen im Vereinigten Königreich meist einen kräftigen, in
    Nationaltracht prangenden Schotten mit der Dose in der
    Hand als allgemein verständliches Symbol gebrauchen.
    Nun, die beiden Brüder Melvill hätten ganz gut dazu ge-
    paßt, als Abzeichen auf den bemalten Zinkschildern zu fi-
    gurieren, wie man sie an den Schutzdächern über den be-
    treffenden Lokalen sieht. Sie schnupften ebensoviel, wenn
    nicht gar noch etwas mehr, als sonst einer diesseits wie jen-
    seits des Tweed. Dabei besaßen sie merkwürdigerweise nur
    eine einzige Tabaksdose, natürlich ein sehr großes Exem-
    plar. Dieses tragbare Stück Möbel wanderte stets abwech-
    selnd in die Tasche des einen und des andern und bildete
    damit gewissermaßen noch ein weiteres Band zwischen den
    Brüdern. Es versteht sich ganz von selbst, daß sie zu genau
    der gleichen Zeit, etwa zehnmal in der Stunde, das Bedürf-
    nis empfanden, sich an dem vortrefflichen, aus Frankreich
    bezogenen Pulver der Herba nicotiana zu erquicken. Wenn
    der eine die Tabaksdose aus den Tiefen seines Rocks her-
    vorholte, hatten eben beide Appetit auf eine gute Prise, und
    beide beglückwünschten sich, wenn sie niesten, mit einem:
    »Gott helfe uns!«
    Alles in allem waren sie zwei richtige erwachsene Kin-
    der, die Brüder Sam und Sib, in bezug auf alle praktischen

    — 9 —
    — 10 —
    Lebensfragen; von industriellen, finanziellen und kommer-
    ziellen Angelegenheiten verstanden sie absolut nichts und
    gaben sich auch gar nicht den Anschein, davon etwas zu
    verstehen; politisch zählten sie im Grunde vielleicht zu den
    Jakobiten, bewahrten ein ererbtes Vorurteil gegen die Dy-
    nastie Hannover und gedachten noch immer des letzten
    der Stuarts, ungefähr wie in Frankreich jemand dem letzten
    der Valois pietätvolles Andenken bewahren könnte; in Her-
    zenssachen gar waren sie noch weniger Kenner.
    Und doch hatten die Brüder Melvill nur den einen
    Wunsch, klar zu sehen im Herzen von Miss Campbell, de-
    ren geheimste Gedanken zu erraten, diese, wenn nötig, in
    bestimmter Richtung zu leiten, sie zu entwickeln, wenn
    das angezeigt erschien, und endlich sie an einen wackeren
    Mann ihrer (der Brüder) eigenen Wahl zu verheiraten, der
    gar
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