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Der Grüne Strahl

Der Grüne Strahl

Titel: Der Grüne Strahl
Autoren: Jules Verne
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zu Zeit aber faßten sie sich, wie getrieben durch
    einen zärtlichen Instinkt, am Arm und drückten einander
    die Hände, als wollten sie durch Schließung einer Art ma-
    gnetischen Stroms die Überleitung ihrer Gedanken gegen-
    seitig erleichtern.
    Oh, das sollte herrlich werden! Alles müßte das Gepräge
    edler Vornehmheit tragen. Die armen Leute von der West
    George Street, wenn es solche gab – doch wo fänden sich
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    keine Arme? –, würden natürlich auch nicht vergessen wer-
    den bei dem frohen Fest. Wenn Miss Campbell unerwarte-
    terweise für größere Einfachheit der Zeremonie sein und
    ihre beiden Oheime in diesem Sinn zu beeinflussen suchen
    sollte, dann würden die ihr zum ersten Mal in ihrem Le-
    ben ernstlich Widerpart halten. Weder in diesem Punkt,
    noch in irgendeinem andern gedachten sie sich zu Konzes-
    sionen herbeizulassen. Unter höchster Feierlichkeit sollten
    die Gäste beim Hochzeitsmahl nach altem Brauch ›aus dem
    hölzernen Truthahn‹ trinken. Und der rechte Arm des Bru-
    ders Sam streckte sich zur Hälfte gleichzeitig aus, wie der
    rechte Arm des Bruders Sib, als wenn sie einander schon
    im voraus einen jener berühmten schottischen Trinksprü-
    che zuriefen.
    Da öffnete sich eben die Tür des Salons. Ein junges Mäd-
    chen mit Rosen auf den Wangen, die ein rascher Gang dar-
    auf gemalt hatte, wurde sichtbar. In der Hand hielt sie ein
    aufgeschlagenes Journal. Sie trat auf die Brüder Melvill zu
    und begrüßte jeden mit zwei herzlichen Küssen.
    »Guten Tag, Onkel Sam«, sagte sie.
    »Guten Tag, mein liebes Kind!«
    »Wie geht es, Onkel Sib?«
    »Vortrefflich, liebes Kind.«
    »Helena«, ergriff Bruder Sam wieder das Wort, »wir ha-
    ben mit dir ein kleines Arrangement zu besprechen.«
    »Ein Arrangement? Welches Arrangement? Was habt ihr
    wieder heimlich geplant, liebe Onkel?« fragte Miss Camp-

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    bell, deren Augen nicht ohne einen gewissen gutmütigen
    Spott von einem zum andern wanderten.
    »Du kennst einen jungen Mann, Mr. Aristobulos Ursic-
    los?«
    »Gewiß kenn’ ich ihn.«
    »Mißfällt er dir?«
    »Warum sollte er mir mißfallen, Onkel Sam?«
    »Also gefällt er dir?«
    »Warum sollte er mir gefallen, Onkel Sib?«
    »Nun, nach reiflicher Überlegung haben der Bruder und
    ich geglaubt, ihn dir als Gatten vorschlagen zu sollen.«
    »Ich soll mich verheiraten? Ich?« rief Miss Campbell,
    während sie in so herzliches Gelächter ausbrach, wie der Wi-
    derhall im Salon wohl noch keines zurückgegeben hatte.
    »Du willst dich also nicht verheiraten?« sagte Bruder
    Sam.
    »Wozu sollte das nützen?«
    »Niemals?« sagte Bruder Sib.
    »Niemals«, erklärte Miss Campbell, eine ernsthafte
    Miene annehmend, die ihr lächelnder Mund Lügen strafte,
    »wenigstens nicht eher, als bis ich . . .«
    »Als bis du was?« riefen die Brüder Sam und Sib ein-
    stimmig.
    »Nicht eher, als bis ich – den Grünen Strahl gesehen
    habe!«
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    2. KAPITEL
    Helena Campbell
    Das von den Brüdern Melvill und Miss Campbell bewohnte
    Landhaus lag eine Meile von dem freundlichen Städtchen
    Helensburgh, am Ufer von Loch Gare, einer jener pittores-
    ken Einbuchtungen, die sich hier und dort am linken Clyde-
    Ufer ins Land hineinziehen.
    Während des Winters hausten die Brüder Melvill und
    ihre Nichte in einem alten Hotel der West George Street,
    im aristokratischen Viertel der Neustadt von Glasgow, un-
    fern vom Blythswood Square. Hier hielten sie sich 6 Monate
    im Jahr auf, wenn sie nicht eine tolle Laune Helenas – der
    sich die Brüder ohne Widerrede fügten – für lange Zeit von
    der Heimat weg, nach den Küstenregionen Italiens, Spani-
    ens oder Frankreichs entführte. Während dieser Reisen sa-
    hen sie nur noch mit den Augen des jungen Mädchens, gin-
    gen dahin, wohin es ihr zu gehen beliebte, verweilten, wo es
    ihr gerade gefiel zu bleiben, und bewunderten nur, was sie
    gerade bewunderte. Wenn Miss Campbell dann ihr Album,
    in dem sie mit Bleistiftzeichnungen oder mit der Feder
    ihre Reiseeindrücke aufbewahrte, geschlossen hatte, bega-
    ben sie sich friedlich wieder auf den Rückweg ins Verei-
    nigte Königreich und bezogen, nicht ohne eine gewisse Be-
    friedigung, die behaglich vornehme Wohnung in der West
    George Street.
    Schon war der Monat Mai 3 Wochen alt, und die Brüder
    Sam und Sib fühlten ein unstillbares Verlangen, aufs Land

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    überzusiedeln. Das ergriff sie gerade in dem Augenblick, wo
    Miss Campbell den nicht
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