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Der große Schlaf

Der große Schlaf

Titel: Der große Schlaf
Autoren: Raymond Chandler
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Brieftasche auf den Tisch und zeigte ihr meinen Orden, den ich drin pinnen hatte. Sie guckte ihn an, nahm die Brille ab und lehnte sich zurück. Ich steckte die Brieftasche weg. Sie hatte die feinen Gesichtszüge einer intelligenten Jüdin. Sie äugte mich an und sagte nichts.
    Ich sagte: »Würden Sie mir einen Gefallen tun, einen klitzekleinen?«
    »Ich weiß nicht. Worum gehtś denn?« Sie hatte eine sanfte, rauchige Stimme.
    »Sie kennen doch Geigers Geschäft drüben, zwei Blocks weiter?«
    »Ich glaube, ich bin schon mal dran vorbeigegangen.«
    »Es ist eine Buchhandlung«, sagte ich. »Aber nicht Ihre Sorte Buchhandlung. Wie Sie sehr wohl wissen.«
    Sie kringelte ihre Lippen und sagte nichts.
    »Sie kennen Geiger vom Sehen?« fragte ich
    »Bedaure. Ich kenne Mr. Geiger nicht.«
    »Sie können mir also nicht sagen, wie er aussieht?«
    Ihre Lippen kräuselten sich stärker. »Warum sollte ich?«
    »Nur so. Wenn Sie nicht wollen – ich kann Sie nicht zwingen.«
    Sie blickte durch die Tür in der Trennwand und lehnte sich wieder zurück. »War das eben ein Sheriffstern?«
    »Ehrensheriff. Wertloses Blech. Dafür kann man sich nichts kaufen.«
    »Ich verstehe.« Sie langte nach einem Päckchen Zigaretten, schüttelte eine heraus und schnappte sie mit den Lippen. Ich hielt ihr ein Streichholz hin. Sie bedankte sich, lehnte sich wieder zurück und betrachtete mich durch den Rauch.
    Sie sagte bedächtig: »Sie wollen wissen, wie er aussieht, aber Sie wollen nicht mit ihm sprechen?«
    »Er ist nicht da«, sagte ich.
    »Er kommt sicher wieder. Schließlich ist es sein Laden.«
    »Ich will ihn im Augenblick nicht sehen«, sagte ich.
    Sie blickte wieder durch die offene Tür.
    Ich sagte: »Verstehen Sie was von seltenen Büchern?«
    »Probieren Sieś aus.«
    »Hätten Sie einen ›Ben Hur‹ von 1860, dritte Auflage, die mit der Doppelzeile auf Seite 116?«
    Sie schob ihr gelbes Gesetzbuch beiseite und langte über den Schreibtisch nach einem Wälzer, blätterte ihn durch, fand ihre Seite und studierte sie. »Die hat niemand«, sagte sie, ohne aufzusehen. »Die gibtś gar nicht.«
    »Richtig.«
    »Worauf in aller Welt wollen Sie hinaus?«
    »Das Mädchen in Geigers Laden hat das nicht gewußt.«
    Sie blickte auf. »Ich verstehe. Sie machen mich neugierig.
    Irgendwie.«
    »Ich bin Privatdetektiv und bearbeite einen Fall. Vielleicht frage ich zuviel. Aber das Gefühl habe ich eigentlich nicht.«
    Sie blies einen sanften grauen Rauchring und steckte ihren Finger durch. Er zerwehte in hauchdünnen Wölkchen. Sie sprach ruhig, gleichgültig. »Anfang Vierzig, würde ich schätzen. Mittelgroß, Fettansatz. Gewicht an die hundertsechzig Pfund. Fettes Gesicht, Charlie-Chan-Bärtchen, dicker, weicher Nacken. Überhaupt weich im ganzen. Gut gekleidet, geht ohne Hut. Spielt den Kunstkenner, der er nicht ist. Ah ja: Sein linkes Auge ist aus Glas.«
    »Sie gäben einen guten Bullen ab«, sagte ich.
    Sie stellte das Nachschlagewerk zurück in ein Regal neben dem Schreibtisch und schlug wieder das Gesetzbuch vor sich auf. »Das will ich nicht hoffen«, sagte sie. Sie setzte ihre Brille auf. Ich dankte ihr und ging.
    Es hatte zu regnen begonnen. Ich rannte los, das eingewickelte Buch unterm Arm. Mein Wagen stand in einer Seitenstraße in Richtung Boulevard, fast auf gleicher Höhe von Geigers Laden. Ich war gründlich begossen, ehe ich dort war.
    Ich warf mich in den Wagen, kurbelte beide Fenster hoch und wischte mein Päckchen mit meinem Taschentuch ab. Dann machte ich es auf.
    Natürlich konnte ich mir schon denken, was es sein würde.
    Ein schweres Buch, gut gebunden, im Handsatz sauber auf feinem Papier gedruckt. Gespickt mit ganzseitigen ›Kunst‹-
    Fotografien. Sowohl Fotos wie Text waren sagenhaft schweinisch. Es war kein neues Buch. Auf das Vorsatzpapier waren Daten gestempelt, Ausleih- und Rückgabedaten. Ein Leihbuch. Eine Leihbibliothek für vollendeten Schmutz und Schund. Ich wickelte das Buch wieder ein und verschloß es hinter dem Sitz. Ein so trübes Gewerbe in aller Offenheit auf dem Boulevard schien mir eine ganze Menge Protektion zu bedeuten. Ich saß da und vergiftete mich mit Zigarettenqualm und lauschte dem Regen und dachte nach.

6
    Regen füllte die Gossen und spritzte kniehoch vom Pflaster.
    Große Bullen in Ölhäuten, die wie Pistolenläufe glänzten, schleppten zu ihrem größten Vergnügen kichernde Mädchen über breite Lachen. Der Regen trommelte schwer aufs Wagendach, und durchs Verdeck begann es zu
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