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Der goldene Kelch

Der goldene Kelch

Titel: Der goldene Kelch
Autoren: Eloise Jarvis McGraw
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sie zu erfahren. Ranofer zögerte – er hatte sich selbst eine Grube gegraben. Die Königin schüttelte ihn. „Wo? Sprich!“
    „In… in der Steinmetzwerkstatt von meinem Halbbruder… im… im Lager, aber… er hat ihn versteckt. Ich weiß nicht wo. Ich kann den Kelch nicht finden. Deshalb musste ich warten und ihnen folgen… Oh, bitte, glaubt mir! Schickt Soldaten zum Grab, sie sollen alles prüfen. Ihr werdet sehen, dass es wahr ist, dass alles wahr ist, was ich gesagt habe.“
    „Schweig! Ich muss nachdenken.“ Die Königin wandte ihren Blick von Ranofer ab und starrte eine Weile ins Leere, dann drehte sie sich plötzlich wieder zu Ranofer und krallte sich an seiner Schulter fest, ihre jungenhafte Stimme war aber ruhiger als zuvor. „Ranofer, Sohn des Thutra – ich werde dein Gedächtnis prüfen. Ich stelle dir jetzt eine Frage. Wenn du die Wahrheit gesagt hast, dann kannst du sie auch beantworten. Hast du verstanden?“
    „Jawohl, Große Königin“, hauchte Ranofer. „Gut. Welcher Gegenstand steht an der Nordseite der Grabkammer meiner Eltern?“
    Ranofer zerbrach sich den Kopf. An der Nordseite? Wo war Norden? Er hatte in diesem gewundenen, dunklen Gang jede Orientierung verloren. Verzweifelt suchte er nach einem Anhaltspunkt, nach irgendetwas, an dem er sich orientieren könnte. Der Steinhaufen? Die Berge im Osten des Tals – waren die Wüstenberge hinter ihm, rechts oder links von ihm, als er in den Spalt kroch? Er hatte keine Ahnung. Er hatte sich ganz auf Gebu konzentriert und dann auf den Geier, er hatte keinen Gedanken daran verschwendet, wo Norden oder Süden war. Er konnte die zweifelnden Blicke spüren, die auf ihm ruhten, konnte das ungläubige Schweigen im Raum fast greifen. Die Anwesenden – bedeutende Männer, Edelleute, Höflinge und die Tochter der Sonne selbst –, sie alle warteten auf den Beweis für seine Geschichte. Und er konnte ihn nicht liefern, er hatte versagt. Man würde ihn ins dunkelste Verlies Ägyptens werfen und den Zwerg gleich mit.
    Plötzlich riss der Schleier vor seiner Erinnerung; alles stand ihm klar vor Augen. Natürlich – die Sarkophage! Wie konnte er nur so dumm sein? Die Särge stehen immer Richtung Westen, zum Land der Götter hin! Denk nach! Wenn die Särge Richtung Westen standen, dann musste die Nordseite…
    Er hob den Kopf und sah in die fragenden Augen der Königin, die ihn fixierten. „Große Königin“, flüsterte er, „es war der Eichenstock des Göttlichen Vaters.“ Einen Augenblick lang herrschte betretene Stille. Die Finger der Königin glitten von seinen Schultern, sie schlug die Hände vors Gesicht.
    „Er sagt die Wahrheit!“, rief sie aus. „Holt Soldaten, schickt sie ins Tal! Schnell, schnell!“ Der Raum war plötzlich von reger Betriebsamkeit erfüllt, aufgeregte Stimmen erhoben sich, der barsche Edelmann schritt schnell zur Tür, riss sie auf und trat hinaus, gefolgt von anderen Männern. Ein eleganter junger Mann schwirrte umher und erteilte den drei Dienern, die an der Wand standen, Befehle. Sie verbeugten sich und eilten durch eine andere Tür, dann wandte sich der junge Mann wieder der Königin zu. Sie war in einen Sessel gesunken, den Kopf in den Händen vergraben. Vornehm gekleidete Hofdamen und ein älterer Herr mit einem prächtigen Halskragen aus Gold beugten sich über sie.
    Man hatte Ranofer vergessen, sogar er selbst hatte sich vergessen. Er stand immer noch genau an der Stelle, wo ihn die Königin hatte stehen lassen, und beobachtet mit weit aufgerissenen Augen das Kommen und Gehen dieser bedeutenden Menschen, das er selbst ausgelöst hatte. Er wäre wahrscheinlich noch Stunden am selben Fleck gestanden, hätte ihn nicht jemand am Arm berührt. Er drehte sich um: Qanefer. „Komm, hier haben wir nichts mehr verloren.“ Der Zwerg nickte in Richtung Vorzimmer und trippelte los, Ranofer eilte hinterher, er glühte vor Scham – er, ein Schandfleck in diesen prächtigen Gemächern, er, ein Bündel aus Fetzen, Schmutz und wüsten Schrammen. Sie hatten fast die Tür erreicht, da hielt sie eine herrische Stimme zurück. „Warte, Qanefer!“
    Sie drehten sich um; der elegante junge Mann kam auf sie zu.
    „Geh zu deiner Königin!“, sagte er zum Zwerg. „Sie hat Order für dich.“ Qanefer trippelte auf seinen kurzen Beinchen davon. Der junge Mann wandte sich an Ranofer. Sein Auftreten war gelassen und sicher, sein Benehmen das eines Edelmannes, aber seinen Augen waren warm, sein Blick gefühlvoll. „Ich bin Graf
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