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Der goldene Kelch

Der goldene Kelch

Titel: Der goldene Kelch
Autoren: Eloise Jarvis McGraw
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Honigkuchen.
    Ranofers leerer Magen knurrte fordernd, das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Er schluckte und wandte sich vom Anblick der Köstlichkeiten ab. Wohin war der Zwerg gegangen? War er so schnell verschwunden, weil er ihm doch nicht glaubte? Vielleicht hielt er ihn inzwischen auch für einen Lügner und hatte Angst vor seiner eigenen Courage bekommen, bereute, dass er dem Aufseher widersprochen hatte, hatte die Sache einfach fallen lassen und ließ ihn nun hier stehen, damit er vom nächsten Diener entdeckt würde; der würde Alarm schlagen und die Jagd würde wieder von vorn losgehen. In panischer Angst überlegte Ranofer, ob er fliehen oder sich verstecken sollte, da hörte er schnelle Schritte auf dem Gang. Die Schritte kamen näher, und im nächsten Augenblick stand auch schon Qanefer in der Tür.
    „Komm schon, du Hitzkopf!“, befahl der kleine Mann mit düsterer Miene. „Wir gehen jetzt zur Königin. Wehe, du hast gelogen! Mögen die Götter uns gnädig sein – mir und dir!“
    Ranofer erstarrte vor Ehrfurcht. Qanefer zerrte den verblüfften Jungen über den Gang zu einer Tür, die von einem Soldaten bewacht wurde. Der Zwerg ignorierte ihn, öffnete die Tür und schob Ranofer in ein kleines Vorzimmer mit blank poliertem Boden und Wänden mit Leinentapeten. Einer der beiden Wachmänner trat vor und öffnete eine Flügeltür. Ranofer und Qanefer traten in einen großen, lichtdurchfluteten Saal, in dem sich viele Menschen aufhielten.
    Im ersten Augenblick sah Ranofer nur eine Frau. Sie war klein und schlank, hatte hohe Wangenknochen und einen vollen Mund, der an den Winkeln sanft nach unten ausschwang; ihre Augenbrauen sahen aus wie schwarze Flügel. Sie stand regungslos in der Mitte des Raumes, ihre Stirn zierte die goldene, sich aufbäumende Kobra Ägyptens.
    Ranofer sank auf die Knie und berührte den Boden mit der Stirn. Während er kniete, hörte er die Stimme der Königin; sie klang hoch und etwas rau wie die Stimme eines Jungen. „Ist er das, Qanefer?“
    „Ja, Tochter der Sonne.“
    „Ich dachte, es sei ein Junge – das da ist ja noch ein Kind!“
    „Trotzdem, Große Königin – “
    „Schweig! Sag ihm, er soll sich erheben!“
    „Erheb dich!“, zischte der Zwerg und stupste Ranofer leicht mit dem Zeh. Ranofer war fast gelähmt vor Ehrfurcht, mit Mühe stand er auf. Die Königin betrachtete ihn einen Augenblick lang prüfend, dann fragte sie: „Wie heißt du?“
    „Ranofer, Sohn des Thutra, Große Königin“, wisperte er.
    „Komm her, Ranofer!“
    Mit schlotternden Knien gehorchte er. Die Königin fasste ihn an der Schulter und sah ihm ins Gesicht. „Du hast meinem Zwerg erzählt, dass Diebe im Grab meiner Eltern sind. Warum sagst du so etwas?“
    „Es ist die Wahrheit, Große Königin, im Grab sind Diebe.“
    „Woher weißt du das?“
    „Ich bin ihnen gefolgt, Große Königin. Ich habe sie gesehen. Sie haben einen Geheimgang gegraben – “
    „So, so“, sagte die Königin sanft. Mit scharfem Blick betrachtete sie sein Gesicht, ihr Griff um seine Schultern wurde fester.
    „Große Königin“, sagte barsch ein Edelmann, „ich bitte Euch, beruhigt Euch! Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass der Junge auch nur in der Nähe des Hauses der Ewigkeit war. Kleine Jungen erfinden doch immer solche Geschichten und machen sich selbst zum Helden. Kaum zu glauben, dass – “
    „Das weiß ich.“ Die Königin ließ Ranofers Schultern los und hob das Haupt, ohne jedoch den Blick von seinem aufgeregten Gesicht zu nehmen. „Aber vielleicht sagt er ja doch die Wahrheit. Ich muss herausfinden, ob es stimmt.“
    „Es ist die Wahrheit!“, platzte Ranofer heraus. „Große Königin, ich kenne – “
    „Schweig!“, zischte der Zwerg im Hintergrund. „Warte, bis du gefragt wirst!“
    „Lass ihn sprechen!“ Die Königin warf dem Zwerg einen vernichtenden Blick zu, machte eine wegwerfende Handbewegung und nickte Ranofer zu. „Fahre fort!“
    „Ich kenne die Männer“, sagte Ranofer nun ganz demütig. „Und ob ich sie kenne! Der eine ist mein Halbbruder, der andere sein Freund. Die beiden haben auch schon früher gestohlen. Ich habe einen goldenen Kelch in der Kleidertruhe meines Halbbruders gefunden, er trug Thutmosis’ Zeichen.“
    Er hielt inne. Ein Zischen erfüllte den Raum, als würden alle Anwesenden plötzlich nach Atem ringen. Die Augen der Königin waren weit aufgerissen, sie beugte sich vor und packte wieder Ranofers Schultern. „Wo ist der Kelch jetzt?“, verlangte
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