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Der Glückliche schlägt keine Hunde: Ein Loriot Porträt (German Edition)

Der Glückliche schlägt keine Hunde: Ein Loriot Porträt (German Edition)

Titel: Der Glückliche schlägt keine Hunde: Ein Loriot Porträt (German Edition)
Autoren: Stefan Lukschy
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2005 eingeläutet, als er mit Romi und mir zum ersten Mal auf Berliner Friedhöfen unterwegs war, um nach einer geeigneten Grabstelle zu suchen. Dass es Berlin sein sollte, war schon länger klar. Vicco ging vor wie ein Regisseur auf Motivsuche. Alle Aspekte der Inszenierung eines Friedhofsbesuchs kamen ihm in den Sinn. Das Licht sollte gut sein, der Platz sollte frei von Lärm und die Vegetation üppig sein. Ein Jahr später beschrieb er den Nachmittag so: »Ich bin mit meiner Frau und Freunden schon über einige Friedhöfe marschiert, und wir haben uns angeguckt, wo wir am liebsten liegen würden. Hinterher haben wir im Café Apfelkuchen mit Schlagsahne gegessen und hatten den Eindruck, wir wären auf unserer eigenen Beerdigung gewesen.«
    Damals war der Tod zwar ein Thema, aber eben doch ein sehr fernes. In späteren Jahren wurden seine Ahnungen konkreter, aber auch hier machte er sich einen Spaß daraus, sich über sein Alter lustig zu machen. Die Münchner »Abendzeitung« hatte auf ihrem Titelblatt groß eine Liste angekündigt: »Wie viele Jahre Sie noch zu leben haben«, oder so ähnlich. Man konnte ausrechnen, wie viel Zeit einem noch blieb. Vicco kaufte neugierig das Blatt, ging die Liste durch, rechnete Lebensalter, Ernährungsgewohnheiten und körperliche Fitness zusammen und verkündete mir das erstaunliche Ergebnis: »Minus drei, ich müsste schon seit drei Jahren tot sein.«
    Im »Kolumbarium« Berlin-Wilmersdorf
    2007 nahmen wir Vicco und Romi zu einer ausgedehnten Havel-Rundfahrt auf unserem Segelboot mit. Das Einsteigen war etwas mühsam, aber als er einmal saß, genoss Vicco intensiv die Ausblicke auf den Wannsee und die Pfaueninsel, wohl auch deshalb, weil er ahnte, dass sich dergleichen nicht mehr oft wiederholen würde. Mehrfach hörten wir bei dieser und ähnlichen Unternehmungen den Satz »Das war das Tollste, was ich jemals erlebt habe«, und in dem Superlativ schwang immer Abschied mit.
    Bei einer gemeinsamen Fahrt ins Oderbruch besuchten wir das abseits gelegene Grab von Viccos im Zweiten Weltkrieg gefallenen Bruder Johann-Albrecht. Wir fanden die Grabstätte im Park von Gorgast bei Küstrin, gingen auf dem Oderdeich spazieren, kehrten in einer rührenden kleinen Gaststätte hinter dem Deich ein und genossen in Neuhardenberg einen wunderschönen Sonnenuntergang. Kleine Reisen, die große Gefühle weckten.
    Auf der Berliner Havel
    Seine Kriegserlebnisse ließ Vicco erst in den letzten Jahren stärker an sich heran. Früher hatte er wohl hier und da von waghalsigen Schützenpanzerwagen-Manövern »Gang rein, Augen zu, Berg runter …« erzählt, von Läusestichen, denen man nur beikam, wenn man mit den Fingern um den Stich herum kratzte, und von der ihn rettenden klassischen Literatur, die er an der Front immer rezitierte. Jetzt begann er auch, von seinen Erinnerungen an die schrecklicheren Dinge zu berichten.
    Einmal war er bei einsetzender Dunkelheit versehentlich von seiner Einheit getrennt worden und mit seinem Panzerspähwagen eher zufällig in einen russischen Konvoi geraten. Er reihte sich mit einer gewissen Kaltblütigkeit zwischen diefeindlichen Fahrzeuge ein und fuhr unbemerkt mit den Russen eine Strecke mit. Als sich eine Gelegenheit ergab, scherte er heimlich aus dem Konvoi wieder aus. Auf dem Weg zurück zu seiner Einheit fuhr er dann über ein schneebedecktes Feld. Sein Ziel war ein Wald am Rand des Feldes, in dem seine Kameraden lagen. Als er unversehrt bei ihnen ankam, sahen die Soldaten ihn entgeistert an – er war, ohne es zu ahnen, durch ein Minenfeld gefahren.
    Erschüttert erzählte er, wie er ein anderes Mal mit mehreren Kameraden auf seinem Schützenpanzerwagen – einer Art offenem gepanzertem LKW mit Kettenantrieb und erhöhten Seitenwänden – durch feindliche Linien fuhr und unter Beschuss geriet. Die Soldaten hatten Angst, aber noch stärker als die Angst war die Scham, sich vor den Kameraden in die Hose zu machen. Sie riskierten lieber ihr Leben, sprangen vom halbwegs sicheren Fahrzeug ab, suchten sich im feindlichen Kugelhagel einen Platz am Straßenrand, verrichteten ihr Geschäft und sprangen wieder auf den Schützenpanzerwagen auf. Einige hat ihre Scham das Leben gekostet …
    Bei seinen Erzählungen kam mir zunehmend der Gedanke, dass Viccos ironische Distanz, die Basis seines humoristischen Blicks, möglicherweise das Resultat dessen war, was der 18- bis 21-Jährige in Russland erlebt hatte. Er hatte dem Tod vielfach ins Auge geblickt und rettete sich in
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