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Der gläserne Schrein (German Edition)

Der gläserne Schrein (German Edition)

Titel: Der gläserne Schrein (German Edition)
Autoren: Petra Schier
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angewurzelt mitten im Raum stehen, sodass Bardolf, der sich auf ihren Arm stützte, beinahe gestolpert wäre. «Vater!» Mit einem Freudenschrei stürzte Jolánda auf Bernát zu, ohne noch länger ihren Gatten zu beachten.
    Bernát hatte sich bereits erhoben und umarmte seine Tochter so fest, dass sie beinahe unter seinen kräftigen Armen verschwand. Dann hielt er sie ein Stück von sich und strahlte über das ganze Gesicht. «Jolánda, mein liebes Kind. Jedes Mal, wenn wir uns sehen, bist du noch schöner.» Er blickte kurz zu Marysa hinüber. «Und deine Tochter ist dein Ebenbild! Welch herrlichen Anblick bieten doch die Frauen meiner Familie.»
    Marysa errötete und schaute verlegen nach unten. Ihre Mutter war in der Tat eine Schönheit. Marysa hatte ihre Locken, die schlanke, grazile Gestalt und auch das herzförmige Gesicht geerbt. Doch sie wusste um die seltsam herben Züge, die ihr Vater ihr mitgegeben hatte und die ihr einiges von der Anmut, die Jolánda auszeichnete, wieder nahmen. Insgesamt wirkte sie kantiger und strenger als ihre Mutter. Sie hatte sich damit abgefunden. Zwar wusste Marysa ihre Vorzüge durch passende Kleider durchaus zu betonen, doch sie als Abbild ihrer Mutter zu bezeichnen war eine kolossale Übertreibung und reine Schmeichelei.
    «Dies dürfte wohl mein neuer Herr Schwiegersohn sein», fuhr Bernát fort und trat neugierig auf Bardolf zu. Die beiden Männer musterten einander ernst und aufmerksam. Bernát schmunzelte. «Ich bin froh, dass Marysa mich bereits über den Grund Eurer Gehbeschwerden aufgeklärt hat. Sonst hätte ich befürchten müssen, Ihr habet bereits den Zorn meiner lieblichen Tochter zu spüren bekommen.»
    Bardolf grinste. «Diese Ehre wurde mir in der Tat bereits hin und wieder zuteil, Meister Kozarac, doch um mir eine Blessur wie die an meinem Fuß zuzufügen, hätte sie mich schon mit einer eisernen Bratpfanne malträtieren müssen. Und so weit, Gott behüte, wird es hoffentlich niemals kommen.»
    «Das hoffe ich allerdings auch!» Mit einem dröhnenden Lachen klopfte Bernát seinem Schwiegersohn auf die Schulter. «Ich sehe, Ihr habt das rechte Gemüt, der Feuersbrunst zu trotzen, die das aufbrausende Temperament meiner Tochter zu entfachen imstande ist. Sehr gut. Aber nun», er wandte sich wieder an Jolánda, «erzähle mir von dem kleinen Éliás!»
***
    Der Abend verlief recht vergnüglich. Da aber die ungarischen Reliquienhändler des Deutschen nur bruchstückhaft mächtig waren, wurden die Gespräche abwechselnd in beide Sprachen übersetzt. Über Geschäftliches wurde nicht gesprochen, sondern ausschließlich über die Reise, die Familien der Kaufleute und die bevorstehende Einweihung der neuen Chorhalle. Zur guten Stimmung tat Balbinas ausgezeichnetes Essen sein Übriges.
    Als Marysa ihre Gäste schließlich kurz vor Mitternacht verabschiedete, durchströmte sie ein Gefühl der Vorfreude. Mit jedem einzelnen der fünf Handelsreisenden hatte sie sich kurz allein unterhalten können, bei mindestens zwei von ihnen, Meister Gáspár und Meister Fábián, versprach sie sich Aussichten auf eine Geschäftsanbahnung. Bei Barabás und den beiden Mönchen war sie sich noch nicht sicher. Barabás schien der Gedanke, Handel mit einer Frau zu treiben, zu befremden, und die Augustiner verhielten sich äußerst zurückhaltend. Marysa argwöhnte, dass auch diese beiden eher ungern mit dem weiblichen Geschlecht zu tun hatten, obwohl der eine von ihnen, András, mehrfach höchst auffällig auf den Ausschnitt ihres Kleides gestarrt hatte. In einem Anflug von Boshaftigkeit wünschte Marysa ihm dafür eine Nacht voller unkeuscher Träume.
    Es regnete noch immer, als Marysa sich zu Bett begab. Zwar hatte sie gegen die Zugluft alle Fensterläden fest verschlossen, aber das stete Plätschern drang dennoch in ihre Schlafkammer wie ein eintöniges Lied. Nach dem langen Abend war sie müde, doch obwohl sie ihr Nachtlicht gelöscht hatte, blieben ihre Augen weit geöffnet. Es war still im Haus. Lediglich die hölzernen Dachbalken knarrten im Wind. Marysa kuschelte sich noch fester in ihre Decke und rieb ihre Füße gegeneinander. Jetzt bereute sie, dass sie Fita nicht gebeten hatte, ihr einen heißen Ziegelstein ans Fußende zu legen.
    Sie wusste nicht recht, warum sie sich ausgerechnet heute so verloren in dem großen Bett fühlte. Normalerweise genoss sie es, sich über die gesamte Breite auszustrecken und nicht auf einen nörgelnden oder zudringlichen Ehemann Rücksicht nehmen zu
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