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Der gläserne Schrein (German Edition)

Der gläserne Schrein (German Edition)

Titel: Der gläserne Schrein (German Edition)
Autoren: Petra Schier
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gesagt, wenn das geschieht, könne er nichts mehr für ihn tun. Die Verletzung ist zu nah an Piets inneren Organen, deshalb konnte sie ja auch nicht ausgebrannt werden.»
    «Das wäre ein herber Verlust für Bardolfs Goldschmiede», sagte Marysa betroffen.
    «Nicht nur das.» Jolánda blinzelte eine Träne fort. «Du weißt ja, wie sehr wir alle Piet mögen. Er mag manchmal ein wenig kauzig sein, aber er ist ein herzensguter Mensch.»
    Beide Frauen senkten den Kopf und widmeten sich wieder ihren Handarbeiten.
    «Wirst du morgen nach der Messe zu uns zum Essen kommen?», fragte Jolánda einige Zeit später. «Solange Vater sich in der Stadt aufhält, möchte ich gerne so oft wie möglich die Familie beisammenhaben.»
    «Sehr gerne.» Marysa lächelte erfreut. «Dann könnte ich Balbina und dem restlichen Gesinde endlich einmal wieder einen freien Sonntag verschaffen.»
    «Und was ist mit den beiden Gesellen?»
    Marysa zuckte mit den Schultern. «Heyn und Leynhard werden sich bestimmt einen Tag lang aus der Vorratskammer bedienen können. Oder sie besuchen ihre Familien.»
    «Leynhard scheint dir zugeneigt zu sein.»
    Marysa hielt ihren Blick weiter auf ihre Stickerei gerichtet. «Tatsächlich?»
    Jolánda hob den Kopf und blickte ihre Tochter prüfend an. «Er ist ein angenehmer Mensch. Ich könnte mir vorstellen, dass ihr sehr gut …»
    «Nein, Mutter.» Nun hob auch Marysa den Kopf. «Ich weiß, worauf du hinauswillst. Aber es geht nicht.»
    «Warum nicht?» Jolánda legte ihre Handarbeit auf den Tisch und beugte sich zu Marysa vor. «Kind, ich verstehe ja, dass du nach Reinold nicht allzu gut auf Männer zu sprechen bist. Aber es gibt auch sehr gute Ehen. Sieh Bardolf und mich an.»
    «Das ist etwas anderes, Mutter.» Marysas Miene verschloss sich. «Ihr liebt einander.» Bevor ihre Mutter etwas erwidern konnte, sprach sie weiter: «Ich erwarte ja nicht, dass mir ein Mann begegnet, dem ich mein Herz schenken kann. Aber Leynhard ist ganz sicher nicht der Richtige für mich.»
    «Du glaubst, er wäre dir nicht gewachsen, nicht wahr?» Verständnisvoll legte Jolánda ihr eine Hand auf den Arm. «Und vielleicht hast du sogar recht damit. Aber auch wenn sich Leynhard mit dem Denken hin und wieder etwas schwertut, bedeutet das nicht, dass ihr keine gute Ehe führen könntet. Ein Mann, der sich vom scharfen Verstand einer Frau führen lässt, kann Gold wert sein.»
    Kopfschüttelnd ließ nun auch Marysa ihre Sticknadel endgültig sinken. «Glaubst du, ich könnte es auf Dauer mit jemandem aushalten, dem ich verstandesmäßig überlegen bin?»
    Jolánda seufzte. «Wenn du es so siehst …»
    «So sehe ich es.»
    «Aber gibt es denn wirklich niemanden …?» Jolánda hielt inne und musterte ihre Tochter aufmerksam. «Oder ist da jemand, von dem wir nichts wissen?»
    Marysa zuckte zusammen und sah ihre Mutter verblüfft an. «Wie meinst du das?»
    «Ich meine …» Jolánda senkte die Stimme, obwohl sie allein im Raum waren. «Gibt es vielleicht einen Mann, den du uns – aus welchem Grund auch immer – nicht nennen willst?»
    Entgeistert schüttelte Marysa den Kopf. «Nein, Mutter! Wie kommst du denn darauf?»
    Jolánda zuckte mit den Schultern. «Nun, wer weiß? Es hätte ja sein können. Manchmal begegnet man jemandem, doch die äußeren Umstände sprechen gegen eine Verbindung. In einem solchen Falle …»
    «Mutter, du irrst dich.» Marysas Worte klangen schärfer, als sie beabsichtigt hatte; sie ärgerte sich darüber. Etwas ruhiger fuhr sie fort: «Du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Ich habe keinen unstandesgemäßen Liebhaber …»
    «So habe ich das doch nicht gemeint!»
    «… und mein Herz gehört nach wie vor mir ganz allein», schloss Marysa in brüskem Ton. «Und so soll es auch bleiben.» Sie griff wieder nach ihrer Stickerei und strich sie glatt. «Ach herrje, sieh dir das an!» Um das Thema zu wechseln, deutete Marysa auf die unregelmäßigen Stiche und die kleinen Knötchen, die sich an einigen Stellen gebildet hatten. «Wie eine blutige Anfängerin. Ich sollte lieber ein wenig auf meiner Laute üben, meinst du nicht auch?» Rasch stand sie auf, holte das Instrument aus einer Lade in der Zimmerecke und stimmte es. Dann begann sie zu singen:
«Owê liehten tage,
owê bluomen rôt,
owê vogel sanc,
owê grüener walt!
nû wirt aber kalt,
nû der winter lanc.
dast der vogel nôt
unde ir meistiu klage.
nochb klage ich die schulde,
daz diu sældebære
mich enterbet hulde.
daz sint mîne
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