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Der Gesang der Haut - Roman

Der Gesang der Haut - Roman

Titel: Der Gesang der Haut - Roman
Autoren: Picus-Verlag
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begonnen, die Straße zuzudecken.
    Es schneit, sagte Frau Gerlach zu ihrem Mann und schien entzückt zu sein, schau, Gert, wie schön es schneit.
    Gerlach wandte sich Viktor zu: Doktor Weber? Schön, dass Sie da sind! Er schritt so resolut auf ihn zu, dass Viktor vor der massiven Gestalt einen halben Schritt zurückwich. Aber Doktor Gerlach blieb unvermittelt stehen und sagte zu seiner Frau: Stell dir vor, Henrietta, diese Frau Sangria will mit mir über den Beruf des Dermatologen sprechen, sie will mit mir einen Film drehen oder etwas in der Art. Im Mittelpunkt steht ein Hautarzt, ich, wir. Willkommen an Bord, Herr Kollege, ich sehe, meine Frau hat Sie schon ein bisschen herumgeführt?
    Sanderia, nicht Sangria, sagte Frau Gerlach und schien wieder zum Leben zu erwachen, die Dame schreibt nur Drehbücher ohne Abnehmer. Ich habe schon von ihr gehört. In der Gegend fällt sie auf.
    Kommen Sie, junger Mann, sagte Gerlach, gehen wir vorerst ins Sprechzimmer.
    Er legte jetzt seinen schweren Arm auf Viktors Rücken. Der junge Arzt spürte das Gewicht dieser Umarmung und versuchte, den Rücken dagegenzustrecken.

(Moira)
    B lickst du schon auf die Shira? Hast du das Camp mühelos erreicht? Deinen Schlafsack ausgerollt? Hast du dicke Socken an den Füßen? Ich sehe es, du schläfst bald, eingepackt wie ein Seidenwurm, bevor du die zweite oder dritte Etappe angehst. Leo ist bei dir. Ich auch.
    Denkst du an mich? An Klara, an Frau Gerlach, die dich so beklommen machte? Auf den ersten Blick eine normale Frau, eine muffige Spur Gleichgültigkeit, eine Art Lasur, die ihre Bewegungen verlangsamte, eine zweideutige Person, eine vieldeutige, das hast du gespürt, nein, kein »weicher Kern in rauer Schale«, lass dich von fix und fertigen Phrasen nicht verführen, Viktor (hier spricht deine Klara!), es geht um anderes: Kennst du die mongolische Tintenzeichnung eines von einem Teufel geführten Elefanten aus dem Album Shir Djang? In der Gestalt dieses Dickhäuters hat ein mongolischer Künstler im 17. Jahrhundert ein Gewimmel an Tieren aller Art eingezeichnet, sogar ein Mensch steckt darin. Auch Henrietta ist ein Zoogehäuse, auch in ihr steckt ein Affe – nicht humorlos – oder ein Schmetterling – manchmal ist sie durch den Wind –, also gut, die Entität Henrietta Gerlach enthält zig Wesen, und da wird einem schon mulmig, ohne dass man recht versteht warum, das Wimmelnde in der erstarrten Figur macht Angst. Ein Monster also? Aber nein. Sie blättert ständig in ihrem Lebensbuch, so schnell, weißt du, dass die vielen Bilder ihrer selbst ein multiples Ganzes ergeben. Hinter dem Goldschnitt versucht sie, sich zusammenzuhalten. Ihre gerade Haltung, eine Leimhaftung: Gerts Gegenwart. Ach, Viktor, außer Dermatologen wissen nur Künstler und Psychiater, wie viele Tiere unter der menschlichen Haut krabbeln. Henrietta Gerlach ist nur ein Mensch und die Haut des Menschen das Kompassgehäuse für viele Richtungen. Sie hat Angst, sie weiß noch nicht, was ihr alles passieren wird, der Verkauf der Praxis ist aber schon eine Zäsur, wie in Celans Gedicht: Das Fremde/ hat uns im Netz,/ die Vergänglichkeit greift/ ratlos durch uns hindurch.

2
    H enrietta hatte die Heizung abgestellt und fröstelte. Tausendfüßler klopften an ihren Schläfen den epischen Rhythmus dieses Satzes: Das ist der letzte Tag. Alle Möbel würden an ihrem Platz bleiben und die Plakate und der Kalender – 22. Dezember – und sogar die Pflanzen, eine uralte Bundnessel, bei Blumenhändlern kaum noch zu finden, und mehrere Exemplare einer Grünlilie, die sich in den Jahren eisern vermehrt hatte, alles alt gewordene Ableger derselben Urpflanze, dennoch spürte man eine Art Versteppung der Räume, die das Leben verlassen hatte. Im Kronleuchter flackerte eine Birne, die man vielleicht noch wechseln sollte. Henrietta schaute seufzend zur hohen Decke und fummelte mit der Hand um den Hals, als müsse sie einen Strick lockern. Sie wunderte sich, dass ihr Mann nach dreißig Jahren zwischen diesen Wänden so leichtfertig mit dem Schlussstrich umging, ja, sogar erleichtert wirkte. Wie leutselig, wie unkompliziert er sich heute von seinen letzten Patienten verabschiedet hatte. Nostalgie war auch nie ihre Schwäche gewesen, heute aber schauderte es ihr vor dem, was ihnen bevorstand. Und sie staunte, dass die Vergangenheit so schnell zusammenschrumpfen konnte. Ein Akkordeon, dachte sie, ein Akkordeon, ein bisschen üben, ein bisschen spielen, drei Zuhörer klatschen, einer
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