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Der Gesang der Haut - Roman

Der Gesang der Haut - Roman

Titel: Der Gesang der Haut - Roman
Autoren: Picus-Verlag
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kämen. Viktor fand auch alte Lehrbücher der Dermatologie sowie eine Sammlung medizinischer Broschüren.
    Trotz der Renovierung roch der Schrank nach Staub, Altpapier, Tabak, vielleicht auch nach menschlichen Ausdünstungen (erreichte manchmal frische Luft die Regale?). Doktor Gerlach steckte noch in dem Schrank, Viktor noch nicht ganz in seiner Praxis. Er holte eine graue Plastikmappe heraus und entschied, für heute alles andere so zu belassen, es war kurz vor drei, am Wochenende könnte er in Ruhe alles sortieren. Er schob die Gardine beiseite, um einen Augenblick aus dem Fenster zu schauen. Wagen schleppten sich auf der verschneiten Straße voran, die schon schwarze Stellen und schmelzende Schneehaufen am Rand aufwies. Eine Frau ging vor seiner Nase vorbei, mit einem dunklen Parka vermummt. Die Frau hatte vielleicht seinen Blick oder seine Bewegung hinter der Scheibe vernommen: Sie drehte sich kurz zu ihm um und ihre Stirn faltete sich in einem Ausdruck des Staunens. Er grüßte automatisch und sie auch. Sie hatte tiefblaue Augen, die sein Bedürfnis nach Liebe und seine Sehnsucht nach Klara anfachten.
    Noch meldete Silvia keinen Patienten. Viktor schlug die graue Mappe auf und staunte: Post aus einer Kölner Detektei lag da, ein Stapel Fotos, Berichte und Briefe, an Frau Gerlach adressiert und dem Datum nach über fünfzehn Jahre alt.
    Eine Schwarz-Weiß-Aufnahme zeigte einen jüngeren Doktor Gerlach mit einer gut aussehenden Frau, sicherlich nicht Frau Gerlach. Sie saßen in einem Restaurant. Wie leise redende Menschen streckten sie dabei ihre Gesichter einander zu, ohne sich zu berühren. Das Bild war von außen geknipst worden, hinter der Scheibe, und die zwei Personen von Lichtreflexen besprenkelt. Gert Gerlach aber konnte man gut erkennen, auch wenn das Haar auf dem Foto noch viel voller war. Das zweite Foto zeigte eine Rückansicht der beiden. Sie betraten ein Wohnhaus. Ein dritter Schnappschuss zeigte sie auf einer Parkbank. Hier küssten sie sich, die Gesichter waren nicht zu erkennen, nur das Haar und die Schläfe von Gerlach. Auf dem letzten Bild sah man eine unscharfe Aufnahme von Gerlachs Freundin im Profil, allein auf der Straße gehend. Sie trug hohe Stiefel, einen Mantel mit Pelzkragen, das glatte Haar nach hinten gekämmt oder vom Wind nach hinten gefegt, ließ ein strenges Profil erraten, eine etwas starke Nase. Die Frau schwenkte eine Handtasche nach vorn (eine für immer nach vorn erstarrte Handtasche, dachte Viktor), ein flotter Gang, wie man ihn vom Laufsteg einer Modeschau kennt.
    Daran geheftet zwei getippte Blätter: der genaue Tagesplan für drei aufeinanderfolgende Mittwochnachmittage einer gewissen Carolin Leitner, dann eine Art Zusammenfassung der Recherchen: Carolin Leitner, siebenundvierzig, Tochter von Johanna und Joachim Leitner, beide verstorben. Carolin Leitner bewohnt eine kleine Wohnung im ererbten elterlichen Haus, Dumontstraße 12, erster Stock. Die anderen Wohnungen des Objekts sind vermietet. Carolin Leitner spricht viel und lacht gern, unserer Meinung nach eine Spur zu schrill. Sie hat in den siebziger Jahren Medizin in Heidelberg studiert, nach einigen Semestern das Studium abgebrochen, dann eine physiotherapeutische Ausbildung in den Niederlanden absolviert. Sie besitzt eine schlecht gehende Praxis unterhalb ihrer Wohnung und scheint mehr von den Mieteinnahmen des Wohnhauses zu leben. Sie besucht einmal die Woche einen Psychotherapeuten. Sie spielt jeden Donnerstagabend in einem Streichquartett, geht an manchen Sonntagmorgen ins Schwimmbad. Carolin Leitner gehört auch zu einem auf Krimis spezialisierten Lesekreis und trifft sich einmal im Monat in abwechselnden Wohnungen mit den anderen Lesern aus diesem Kreis.
    Viktor hörte das Telefon und legte schnell Papiere und Fotos in die Mappe zurück und gab sie wieder in den Schrank. Marion kündigte den ersten Nachmittagspatienten an.
    Er hatte aber Mühe, sich auf den Herpes des jungen Mannes zu konzentrieren, Carolin Leitner spukte in seinem Kopf. Anscheinend hatte Frau Gerlach ihren Mann bespitzeln lassen. Aber wieso waren diese Unterlagen hier im Schrank gelandet und geblieben? Wahrscheinlich hatte sie ihren Mann in der Praxis mit den Tatsachen konfrontiert. Vielleicht hatte er dann selbst das Dossier hier verstaut und jetzt unten den vielen Zeitschriften vergessen.
    Als der Patient weg war, ging Viktor wieder zum Schrank, mit der Neugier und dem schlechten Gewissen eines Einbrechers. Er war perplex. Sollte er Frau
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