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Der Geliebte

Titel: Der Geliebte
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Zellentür fällt hinter mir zu. Ich setze mich auf die Pritsche, starre auf das Gekritzel an der Wand und schaue zu dem kleinen Fenster. Kein Sonnenschein. Regentropfen prasseln leise auf das Glas. In einiger Entfernung schreit und flucht jemand.
    Was habe ich hier zu suchen?
    Ich gehöre hier nicht her. Was mache ich überhaupt in Frankreich? Erics Idee. Zwei Kinder? Erics Idee. Alle wichtigen Entscheidungen, mein ganzes Leben lang, sind von anderen getroffen worden. Zuletzt von Eric und früher, vor unserer Ehre, von meiner Mutter. Sogar diese Ehe hat letztlich sie für mich ausgesucht. Bevor ich heiratete, war sie es, die für mich die Entscheidungen traf. Selbst als ich Eric heiratete, folgte ich im Wesentlichen genau ihren Anweisungen. Eric war genau der Typ Mann, den sie sich für mich vorstellte, er passte quasi nahtlos in die Schablone, die sie für meine Heiratskandidaten geformt hatte. Was sie anfangs allerdings nicht begriff, weil Eric damals noch am Anfang seiner Karriere stand. Er schaute nach oben, hatte die ersten Sprossen der Leiter schon fest im Griff, aber sie sah es nicht. Sie sah lediglich seinen Ohrring, sein Fahrrad und seine Bafögschulden. Erst ein Jahr vor unserer Heirat klarte die dicke Luft auf. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, dass ihre Zustimmung mir alles bedeutete. Nach unserer Heirat übernahm Eric wie selbstverständlich die Führung. Er überlegte sich Dinge, und ich führte sie aus. Er bog links ab, ich folgte; wenn er anhielt, hielt ich neben ihm an. Wenn er mit voller Kraft voraus wollte, rannte ich hinter ihm her und versuchte Schritt zu halten, wobei ich über meine eigenen Füße stolperte. War es ein Mangel an Charakterstärke? Feigheit? Ich weiß es nicht. Eric dachte für mich, und ich führte aus, was er sich überlegt hatte.
    Michel war mein erster Ausreißer. Was ich getan hatte, hatte ich auf die eigene Kappe genommen, im Wissen, dass niemand, aber auch wirklich niemand es gutheißen würde.
    Wohin mich das geführt hatte, war jetzt überdeutlich.
     

50
     
    Michel öffnete die Tür. Das Staunen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Bruno saß auf dem Sofa vor dem Fernseher und setzte ein schuldbewusstes Gesicht auf, wie ein Kind, das man bei etwas Verbotenem erwischt hatte. Und dann war da noch ein Mädchen. Es saß auf Michels Bett, schien etwa achtzehn Jahre alt zu sein und sah fantastisch aus: lange dunkle Haare, eine Taille, auf die man wahrlich eifersüchtig sein konnte, straffe Haut.
    »Ist schon in Ordnung«, sagte Michel in beruhigendem Tonfall zu Bruno. »Als Niederländerin ist sie einiges gewöhnt.«
    Erst jetzt erfasste ich die Situation. Verlegen rückte Bruno auf dem Sofa zur Seite, fischte mit einem entschuldigenden Grinsen ein flaches weißes Päckchen zwischen Kissen und Rückenlehne heraus und steckte es sich in die Hosentasche.
    Ich sah Michel in die Augen. Keine geweiteten Pupillen.
    »Was willst du hier?« Er wirkte verärgert und war kurz angebunden. Anscheinend hatte er, was unser Verhältnis zueinander anging, ziemlich drastisch umgeschaltet. Dass ich jetzt hier vor der Tür stand, passte nicht ins Bild. Wir hatten einander Lebewohl gesagt, und jetzt hielt ich mich nicht an die Abmachung.
    »Ich muss … ich will mit dir sprechen.« Ich schaute noch einmal zu Bruno hinüber. »Es ist … es ist wichtig.«
    Auf einen Wink Michels verließ Bruno den Raum. Im Vorbeigehen grinste er mich an und zwinkerte mir zu. Das Mädchen schaute mich unverhohlen feindselig an, bevor es ihm folgte.
    Schnell trat ich ein paar Schritte vor, Michel schloss die Tür. Er fixierte mich, unentwegt, mit finsterem Blick. Rieb sich am Arm. »Hat Eric was gemerkt?«
    »Nein. Es ist wegen Peter …«
    »Was ist mit Peter?«
    Ich kniff die Augen zusammen, kämpfte mit den Tränen.
    Michel tat einen Schritt auf mich zu und wollte mich umarmen, aber ich wehrte ihn ab und setzte mich aufs Bett, um alles der Reihe nach zu erzählen.
    Wo sollte ich anfangen? Bei dem Foto, das Peter gemacht hatte? Bei seinem Übergriff von heute Nachmittag? Schon in meiner Muttersprache wäre es mir schwergefallen, davon zu erzählen; umso schwerer fiel es mir in Französisch.
    »Peter hat mich erpresst.« Die Vokabel hatte ich schon vor Monaten im Wörterbuch nachgeschlagen. Ich sah zu Michel auf. »Weißt du noch, diese Party bei Peter? Wie wir morgens zusammen draußen waren und er uns gesehen hat?«
    Er nickte. Sah mir weiter forschend ins Gesicht.
    Ich holte tief Luft. »Danach ist Peter
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