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Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen

Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen

Titel: Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
Autoren: Libba Bray
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auf den anderen, während sie nach einem Wort suchten, das nicht zu taktlos war) »alte B e kannte«?
    Wie konnte ich ihnen sagen, was ich gesehen ha t te? Ich wusste ja selbst nicht, was ich glauben sollte.
    An den Fenstern des Zugs rattert immer noch die bl ü hende englische Landschaft vorbei. Aber das Rü t teln des Waggons erinnert mich an das schaukelnde Schiff, das uns von Indien herbrachte. Die Küste Englands, die wie eine Warnung Gestalt annimmt. Meine Mutter, tief begraben in der kalten, unbar m herzigen Erde Englands. Mein Vater, mit glasigem Blick auf den Grabstein starrend –Virginia Doyle, geliebte Gattin und Mutter –, durch ihn hindurc h schauend, als könnte er allein durch seinen Willen das G e schehene ungeschehen machen. Und da es nicht gelang, zog er sich in sein Arbeitszimmer zu der Laudanumflasche zurück, die seine ständige Begleiterin geworden war. Manchmal fand ich ihn schlafend in seinem Sessel, die Hunde zu seinen F ü ßen, die braune Flasche in Reichweite, der schwere Atem mit einem süßlichen Arzneigeruch g e tränkt. Dieser einst große, kräftige Mann war dünner g e worden, abgemagert durch Kummer und Opium. Und ich, die ich an allem schuld war, musste untätig zusehen, hilflos und stumm. Die Trägerin eines Geheimnisses, so schrec k lich, dass ich Angst hatte, überhaupt zu sprechen. Ich fürchtete, es könnte wie Kerosin aus mir herausfließen und jeden verbrennen.
    »Du grübelst schon wieder«, sagt Tom und sieht mich misstrauisch an.
    »Tut mir leid.« Ja, es tut mir leid, unendlich leid, alles.
    Tom stößt die Luft aus, lange und heftig, und ve r leiht seiner Stimme den nötigen Nachdruck. »Es braucht dir nicht leidtun. Hör schon auf damit.«
    »Ja, leid«, sage ich, ohne zu denken. Ich berühre das Amulett . Es hängt jetzt um meinen Hals, eine Erinnerung an meine Mutter und an meine Schuld, verborgen unter dem steifen schwarzen Krepp me i nes Trauerkleids, das ich nun sechs Monate lang tr a gen werde.
    Durch den sich lichtenden Nebel vor unserem Fenster sehe ich die Gepäckträger am Zug entlange i len, mit den Wagen Schritt haltend, bereit, Holztreppen an die geöffn e ten Türen zu schieben, damit wir aussteigen können. En d lich kommt unser Zug äc h zend und mit einem Schwall von Dampf zum Halten.
    Tom steht auf und streckt sich. »Los. Gehen wir, bevor alle Träger vergeben sind.«
     
     
    Victoria Station – der Bahnhof mit seiner Betrie b samkeit raubt mir den Atem. Auf dem Bahnsteig wimmelt es von Menschen. Am weit entfernten Ende des Zuges klettern die Passagiere der dritten Klasse heraus, ein Knäuel aus Armen und Beinen. Koffe r träger schleppen das Gepäck und Pakete für die Pa s sagiere der ersten Klasse. Zeitungsjungen halten die Tageszeitungen mit den sensationellsten Schlagze i len hoch in die Luft. Blumenverkäuferinnen gehen am Zug entlang, mit einem Lächeln auf dem Gesicht, das ebenso hart und abgenutzt wirkt wie die hölze r nen Tabletts, die sie vor sich hertragen. Ein Mann mit einem unter den Arm g e klemmten Regenschirm saust so knapp an mir vorbei, dass er mich fast über den Haufen rennt.
    »Verzeihung«, murmle ich ärgerlich. Er nimmt keine Notiz von mir. Als ich einen Blick zum Ende des Bah n steigs werfe, erspähe ich etwas Seltsames. Einen weiten schwarzen Mantel, der mein Herz schneller schlagen lässt. Mein Mund wird trocken. Es kann unmöglich sein, dass er hier ist. Dennoch bin ich s i cher, dass er es ist, der soeben hinter einem Kiosk verschwindet. Ich versuche, näher zu ko m men, aber das Gedränge ist zu groß.
    »Wo willst du hin?«, fragt Tom, als ich wie wild gegen den Strom ankämpfe.
    »Ich will mich nur umsehen«, sage ich und hoffe, dass er die Angst in meiner Stimme nicht bemerkt. Ein Mann kommt hinter dem Kiosk hervor, mit einem Bündel Ze i tungen auf der Schulter. Sein Mantel, schwarz und ein paar Nummern zu groß, hängt wie ein weiter Umhang an ihm. Ich lache fast vor E r leichterung. Siehst du, Gemma? Du fängst an, dir Dinge einzubilden. Lass es gut sein.
    »Wenn du dich schon umsehen willst, dann schau, ob du einen Träger für uns findest. Weiß der Teufel, wo die alle so schnell hin sind.«
    Ein magerer Zeitungsjunge, der gerade vorbeikommt, bietet uns an, für zwei Pence eine schöne Droschke zu b e sorgen. Mühsam schleppt er den Koffer mit meinen wenigen irdischen Habseligkeiten: eine Handvoll Kle i der, das Tagebuch meiner Mutter, ein roter Sari, ein g e schnitzter indischer Elefant und der geliebte
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