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Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen

Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen

Titel: Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
Autoren: Libba Bray
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Platz. Er spricht zu dem a n deren Mann in scharf herausgestoßenen Worten eines Di a lekts, den ich nicht verstehe. Aus Fenstern und Haustüren schauen Leute, um zu sehen, was los ist. Der alte Mann ist aufgestanden und zeigt auf mich, auf die Halskette. Gefällt sie ihm nicht? Irgendetwas an mir hat ihn erschreckt. Er scheucht mich fort, geht ins Haus und schlägt mir die Tür vor der Nase zu. Gut zu wissen, dass meine Mutter und S a rita nicht die Einzigen sind, die mich unausstehlich finden.
    Die Menschen verharren an den Fenstern und beobac h ten mich. Der erste Regentropfen fällt und hi n terlässt einen Flecken auf meinem Kleid. Der Himmel kann jeden M o ment seine Schleusen öffnen. Ich muss zurück. Nicht au s zudenken, wenn Mutter vom Regen durchweicht wird und ich daran schuld bin, weil sie mich sucht. Warum habe ich mich nur wie ein eigensinniger Fratz benommen? Jetzt wird sie mich nie und nimmer nach London schicken. Ich werde in einem österreichischen Kloster enden, u m geben von Frauen mit Schnurrbärten, halb erblindet vom Sticken komplizierter Spitzenmuster für die Aussteuer fremder Mädchen. Ich verfluche mein hi t ziges Temperament, aber das hilft mir jetzt auch nicht weiter. Schlag eine Richtung ein, Gemma –irgendeine Richtung –, nur geh. Ich nehme den Weg nach rechts. Die unbekannte Straße mündet in eine andere und diese wieder in eine andere, und gerade als ich um eine Ecke b iege, sehe ich ihn kommen. Den jungen Mann vom Marktplatz.
    Keine Panik, Gemma. Geh einfach nur langsam weg, bevor er dich sieht.
    Ich mache zwei hastige Schritte rückwärts. Mein Absatz bleibt an einem Stein hängen, ich verliere den Halt und schlittere auf die Straße. Als ich mich au f richte, starrt mich der junge Mann mit einem Blick an, den ich nicht deuten kann. Einen Moment lang rührt sich keiner von uns. Wir stehen so reglos wie die Luft, die uns umgibt und Vorbote eines drohe n den Sturms ist.
    Eine plötzliche Angst befällt mich, durchfährt mich wie ein kalter Windstoß, verstärkt durch G e sprächsfetzen, die ich im Arbeitszimmer meines V a ters aufgeschnappt habe –über das Schicksal einer unbegleiteten Frau, die von üblen Männern überwä l tigt wurde und deren Leben dadurch für immer ze r stört war. Aber das sind nur Geschichten. Dieses hier ist ein realer Mann, der mit energischen Schritten auf mich zukommt.
    Er will mich fangen, aber ich werde es nicht zulassen. Mein Herz klopft mir bis zum Hals. Ich raffe meine Röcke, bereit loszurennen. Ich versuche, einen Schritt zu machen, doch meine Beine zittern wie die eines Kälbchens. Der B o den unter mir schwankt.
    Was geschieht da?
    Bewegen. Ich muss mich bewegen, aber ich kann nicht. Ein seltsames Kribbeln befällt mich, es beginnt in meinen Fingern, wandert den Arm hinauf, in me i ne Brust. Mein ganzer Körper zittert. Ein schreckl i cher Druck schnürt mir den Atem ab, zwingt mich hinunter auf die Knie. Panik wuchert wie Unkraut in meinem Mund. Ich will schreien. Aber ich bringe kein Wort heraus. Keinen Laut. Der Mann erreicht mich, als ich zu B o den sinke. Ich will ihm sagen, er soll mir helfen. Ich richte meinen Blick auf sein G e sicht, seine vollen, schön geschwungenen Lippen. Seine dichten dunklen Locken fallen über seine Augen, tiefe braune A u gen mit endlos langen Wimpern. Erschrockene Augen.
    Hilfe.
    Das Wort steckt in mir fest. Ich fürchte nicht mehr, me i ne Unschuld zu verlieren. Ich weiß, ich muss sterben. Ich versuche, den Mund zu öffnen, um ihm das zu sagen, aber es kommt nur ein würgender Laut aus meiner Kehle. Ein starker Geruch nach R o sen und Gewürzen überwältigt mich, der Horizont verschwimmt. Meine Lider flattern, während ich krampfhaft versuche, bei Bewusstsein zu ble i ben. Seine Lippen sind es, die sich öffnen, sich bewegen, sprechen.
    Seine Stimme, die sagt: »Es geschieht.«
    Der Druck nimmt zu, bis ich das Gefühl habe zu zerber s ten. Ein wirbelnder Tunnel aus blendenden Farben und Licht zieht mich hinab wie ein Sog. Ich falle ins Bodenl o se. Bilder rasen vorbei. Ich sehe mich selbst als Zehnjähr i ge, ich spiele mit Julia, der Stoffpuppe, die ich ein Jahr später bei einem Pic k nick verloren habe; ich bin sechs und Sarita wäscht mir vor dem Abendessen das Gesicht. Die Zeit dreht sich zurück und ich bin drei, zwei, ein Baby und dann ein bleiches und fremdes Etwas, ein Geschöpf nicht größer als eine Kaul q uappe und genauso ze r brechlich. Der starke Sog erfasst mich abermals mit Macht,
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