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Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen

Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen

Titel: Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
Autoren: Libba Bray
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recht hat, aber ich ha s se ihn dafür, ich kann nicht anders. »Bist du sicher, dass es mein Schutz ist, um den du dir Sorgen machst?«
    Sein Unterkiefer versteift sich wieder. »Diese letzte B e merkung will ich überhört haben. Wenn du schon nicht an mich denkst und an dich selbst, so denk an Vater. Er ist ein gebrochener Mann, Gemma. Es ist nicht zu übersehen. Die Umstände von Mutters Tod haben ihn zugrunde gerichtet.« Er z upft an den Manschetten seines Hemds. »Wahrschei n lich weißt du, dass Vater in Indien einige sehr schlechte Gewohnheiten angenommen hat. Mit den Indern Wasse r pfeife zu rauchen, mag ihn zu einem beliebten Geschäft s mann gemacht haben, aber es war seiner G e sundheit nicht zuträglich. Er hat sich immer ganz dem Genuss hingeg e ben. Der Flucht aus dem Al l tag.«
    Vater kam meistens spät und völlig erschöpft von seinen Tagesgeschäften nach Hause. Ich erinnere mich, wie Mu t ter und die Dienstboten ihn zu Bett gebracht haben –oft, nicht nur gelegentlich. Trot z dem tut es weh, das zu hören. Ich hasse Tom dafür, dass er mir das sagt. »Warum lässt du dann zu, dass er das Laudanum trinkt?«
    »An Laudanum ist nichts auszusetzen. Es ist M e dizin«, entgegnet er hitzig.
    »In Maßen …«
    »Vater ist nicht süchtig. Vater doch nicht«, sagt er, als müsse er ein Geschworenengericht überzeugen. »Er wird sich erholen, jetzt wo er wieder in England ist. Bloß denk daran, was ich dir gesagt habe. Kannst du mir wenigstens so viel versprechen? Bitte?«
    »Ja, klar«, sage ich und fühle mich innerlich tot. Die in Spence wissen nicht, was sie erwartet, wenn sie mich bei sich aufnehmen, den Geist eines Mä d chens, das nicken und lächeln und seinen Tee trinken wird, aber nicht wirklich da ist.
    Der Kutscher ruft uns zu: »Sir, der Weg führt durchs East, falls Sie die Vorhänge zuziehen wo l len.«
    »Was meint er damit?«, frage ich.
    »Wir müssen durchs East End fahren. Meine Güte, die Slums, Gemma«, sagt er und bindet schon die Vorhänge auf beiden Seiten seines Fenster los, um die Armut und den Dreck auszusperren.
    »Ich habe Slums in Indien gesehen«, sage ich und lasse meine Vorhänge, wo sie sind. Der Wagen rumpelt über Kopfsteinpflaster durch schmuddelige, enge Straßen. Du t zende schmutziger Kinder streunen herum und starren uns in unserer vornehmen Kutsche an. Es bricht mir das Herz, ihre mageren, dreckigen Gesichter zu sehen. Mehrere Frauen hocken zusa m mengedrängt unter einer Gaslaterne und nähen. Es lohnt sich für sie, das Licht der Straßenb e leuchtung zu nützen und nicht ihre eigenen kostbaren Ke r zen für diese undankbare Arbeit zu vergeuden. Der G e stank in den Straßen –eine Mischung aus Kohl, Pferdeä p feln, Urin und Verzweiflung –ist in der Tat schrecklich und ich fürchte, mich übergeben zu mü s sen. Laute Musik und Geschrei dringen aus einer T a verne. Ein betrunkenes Paar taumelt auf die Straße hinaus. Die Frau hat feuerrote Haare und ein stark geschminktes Gesicht. Sie suchen Streit mit unserem Kutscher und halten uns auf.
    »Was ist denn los?« Tom klopft gegen das Ve r deck des Wagens, um den Kutscher anzutreiben. Aber die Frau b e schimpft den Kutscher, dass ihm Hören und Sehen vergeht. Es scheint, als müssten wir die ganze Nacht hierbleiben. Der betrunkene Mann schielt nach mir, winkt, macht o b szöne Ge s ten.
    Angewidert drehe ich mich weg. Tom lehnt sich aus se i nem Fenster. Ich höre, wie er herablassend und ung e duldig versucht, das Paar auf der Straße zur Vernunft zu bringen. Aber irgendetwas ist komisch. Seine Stimme klingt plöt z lich gedämpft, wie das Rauschen einer Muschel, die man ans Ohr hält. Und dann höre ich nur noch mein Blut, das durch meine Adern rast und hart in meinen Schläfen pocht. Ein gewaltiger Druck erfasst mich und schnürt mir den Atem ab.
    Es geschieht abermals.
    Ich will nach Tom rufen, aber ich kann nicht. Wieder falle ich durch jenen Tunnel aus Farben und Licht. Und ebenso schnell gleite ich aus dem Wagen, trete leichtfüßig hinaus in eine sich verdunkelnde schmale Gasse mit fli m mernden Rändern. Da ist ein kleines Mädchen von ung e fähr acht Jahren, das auf dem schmutzigen, strohbedeckten Boden sitzt und mit einer zerlumpten Stoffpuppe spielt. Ihr Gesicht ist dreckverschmiert, doch davon abgesehen scheint sie nicht hierher zu passen, mit ihrem rosa Haa r band und ihrer gestärkten weißen Schürze, die eine Nu m mer zu groß für sie ist. Sie singt ein paar Takte einer Mel o die, die eine
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