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Der geheime Garten

Der geheime Garten

Titel: Der geheime Garten
Autoren: Frances Hodgson Burnett
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eintraf, empfing ihn die Dienerschaft in gewohnter Weise. Seine Leute bemerkten sogleich, daß er besser aussah und nicht geradewegs in seine abgelegenen Zimmer ging, wo er sich für gewöhnlich aufhielt. Er begab sich statt dessen in die Bibliothek und bat Mrs. Medlock, ihm zu folgen. Sie war ein bißchen aufgeregt und verwirrt.
    »Wie geht es Master Colin, Mrs. Medlock?« fragte er.
    »Gut, Sir«, sagte sie. »Er ist irgendwie anders geworden.«
    »Schlimmer?«
    Mrs. Medlock errötete.
    »Wirklich, Sir, weder Doktor Craven noch die Schwester wissen Genaueres, und ich auch nicht.«
    »Wieso?«
    »Um die Wahrheit zu sagen, Sir, es kann sein, daß Master Colin sich zum Guten oder zum Schlechten verändert hat. Sein Appetit ist völlig unbegreiflich — und seine Art —«
    »Ist er wunderlicher — absonderlicher geworden?« fragte Mr. Craven, und seine Brauen zogen sich zusammen.
    »Das ist es ja, Sir. Er ist sehr seltsam geworden, wenn man weiß, wie er früher war. Erst aß er nichts, dann begann er plötzlich schrecklich viel zu essen — und dann hörte das ebenso plötzlich wieder auf, und die Mahlzeiten wurden zurückgeschickt, so wie früher. Sie wissen selbst, Sir, daß er nie ins Freie wollte. Was wir mit ihm erlebt haben, wenn wir ihn in seinem Rollstuhl hinausbringen wollten, konnte einem das Zittern beibringen. Er pflegte sich in einen solchen Zustand hineinzusteigern, daß Doktor Craven sagte, er könnte es nicht verantworten, wenn man ihn dazu zwinge. Nun, Sir, nicht lange, nachdem er seinen schlimmsten Anfall gehabt hatte, bestand er plötzlich ohne jeden Grund darauf, daß Miß Mary und Susan Sowerbys Sohn, Dickon, ihn jeden Tag hinausbegleiteten. Dickon mußte den Rollstuhl schieben. Colin hat eine große Zuneigung zu Miß Mary und Dickon gefaßt. Dickon brachte ihm seine gezähmten Tiere, und, ob Sie es glauben oder nicht, jetzt will er jeden Tag vom Morgen bis zum Abend draußen sein.«
    »Wie sieht er denn aus?« war Mr. Cravens Frage.
    »Wenn er richtig essen würde, möchte man sagen, er sei kräftiger geworden — aber wir fürchten, daß er nur aufgedunsen ist. Er lacht manchmal so eigenartig, wenn er mit Miß Mary allein ist. Und dabei hat er doch nie gelacht. Doktor Craven möchte Sie sobald wie möglich sprechen, Sir. Er war in seinem ganzen Leben noch nie so unsicher.«
    »Wo ist Master Colin jetzt?« fragte Mr. Craven.
    »Im Garten, Sir! Er ist immer im Garten. — Allerdings darf sich ihm dort keiner nähern. Er fürchtet offenbar, daß jemand ihm zusieht.«
    Mr. Craven hatte ihre letzten Worte kaum gehört.
    »Im Garten?« fragte er. Nachdem er Mrs. Medlock entlassen hatte, stand er auf und wiederholte immer wieder: »Im Garten!« Plötzlich machte er kehrt, verließ das Zimmer und ging hinaus in den Garten.
    Er ging an den Lorbeersträuchern vorbei zum Springbrunnen. Das Wasser funkelte in der Sonne, und ringsum blühten tausend bunte Herbstblumen. Mr. Craven schritt quer über den Rasen. Er erreichte den Weg, der an den Efeumauern entlangführte. Langsam nur bewegte er sich. Die Augen hielt er gesenkt. Er hatte das Gefühl, als würde er zu dem Fleckchen Erde, das er so lange gemieden hatte, hingezogen. Je näher er kam, desto langsamer wurde sein Schritt. Er wußte, wo das Tor war, mochte es auch noch so dick von Efeu bewachsen sein. Aber er konnte sich nicht mehr genau erinnern, wo er damals den Schlüssel vergraben hatte. Zögernd blieb er stehen und schaute sich um. Dann fuhr er plötzlich auf und horchte. Träumte er?

    Der schwere Efeuvorhang hing über dem Tor, der Schlüssel lag unter den Sträuchern vergraben, seit zehn Jahren konnte kein menschliches Wesen den Garten betreten haben — dennoch bewegte sich dort etwas. Es hörte sich wie eilige Füße an. Und da waren Stimmen! Es klang, als ob sie lachten. Ein unterdrücktes Gelächter. Was, um Himmels willen, bedeutete das? Verlor er seinen Verstand? Und dann kam der Augenblick, da die Stimmen lauter wurden. Schnelle Schritte näherten sich dem Gartentor. Ein hastiges Atmen, ein wilder Ausbruch von Gelächter — und das Tor flog auf. Der Efeuvorhang wurde zur Seite gerissen! Ein Junge kam hervorgeschossen. Er war so in Eile, daß er den Mann vor sich nicht sah und ihn fast umrannte. Mr. Craven hatte eben noch zur rechten Zeit die Arme ausgebreitet, um den Jungen vor dem Zusammenprall zu bewahren. Als er ihn so in seinen Armen hielt und ihn erstaunt betrachtete, stockte sein Atem.
    Der Junge war groß und hübsch. Er glühte
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