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Der Gast: Roman

Der Gast: Roman

Titel: Der Gast: Roman
Autoren: Richard Laymon
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der Nacht. Seine Beine sahen heller aus. Die weißen Socken leuchteten. Nur seine Schuhe und das Hemd waren dunkel.
    Ich hätte etwas Schwarzes anziehen sollen.
    Klar, dachte er. Genau. Damit ich für meine mitternächtliche Rettungsmission richtig gekleidet bin.
    Er konnte nicht glauben, dass er das tat.
    Ich muss verrückt sein.
    Er war in seinem Leben noch niemandem zu Hilfe geeilt. Die Gelegenheit hatte sich nie ergeben. Er hätte nie damit gerechnet, dass es dazu kommen würde.
    Die Pistole in der Konsole war zur Selbstverteidigung gedacht gewesen, als letzter Ausweg im Falle eines Angriffs. Er hatte sie gekauft, nachdem er 1992 im Fernsehen Livebilder aus einem Hubschrauber gesehen hatte, die zeigten, wie Leute an der Ecke Florence und Normandie aus ihren Autos gezerrt und beinahe totgeschlagen wurden.
    Man kann nie wissen, ob man sich nicht plötzlich mitten in irgendwelchen Unruhen wiederfindet oder von einem Schlägertypen überfallen wird, der sich das Auto unter den Nagel reißen will und einen dabei vielleicht umbringt.
    Deshalb hat man eine Pistole dabei.
    Absolut verboten, aber das Risiko wert.
    Lieber zwölf Geschworene als sechs Sargträger.
    Er fragte sich, ob er genauso handeln würde, wenn er keine Pistole hätte.
    Auf keinen Fall.
    Das ist verrückt, dachte er.
    Aber er rannte weiter, warf die Beine nach vorn, pumpte mit den Armen, sprang über die dunklen Gleise, Dornengestrüpp, Fahrspuren, einen alten Reifen, ein Sofakissen, einen Haufen zerborstener Dosen, die nach Öl rochen. Er wich größeren Büschen, einer Stoßstange, mehreren Bäumen, einer Kloschüssel, die stank, als hätte sie vor nicht allzu langer Zeit jemand benutzt, und einer alten Tür, die wie ein Eingang zum Erdreich auf dem Boden lag, aus.
    Dann blieb sein Fuß irgendwo hängen.
    Eine Wurzel, ein Stück Stacheldraht oder vielleicht das Kabel eines halb vergrabenen Elektrogeräts.
    Er wusste nicht, was es war, aber es hakte sich um seinen linken Fuß und hielt ihn fest. Er stürzte kopfüber.
    Beim Fallen hätte er beinahe »Scheiße!« geschrien.
    Er behielt einen klaren Kopf und schrie es nur im Geiste.
    Der Aufprall war schmerzhaft. Er fiel auf eine unsichtbare Mischung aus Blättern, Erde und Müll. Unter ihm knackte, knirschte und schmatzte es, etwas kratzte ihn, Gegenstände bohrten sich in seine Haut. Ihm blieb die Luft weg. Etwas schlug gegen seine Eier. Er hatte schmerzende Stellen an den Knien, den Armen und der Brust. Vermutlich blutete er hier und dort.
    Er wollte schnell aufstehen.
    Wer weiß, was für schreckliche Dinge dort unter ihm lagen. Sofort fielen ihm ein paar ein: rostige Nägel, Glasscherben, ein benutztes Kondom, eine Windel oder eine Damenbinde, Hunde- oder Menschenkot, Spinnen, Schnecken oder Schlangen. Eine halb zerquetschte Ratte könnte sich unter seinem Bauch umdrehen und ihn beißen.
    Trotzdem war er eine Weile nicht in der Lage, sich zu bewegen.
    Dann drückte er sich vom Boden hoch und stand auf. Er konnte jedoch nicht aufrecht stehen – es tat zu sehr weh. Er musste sich vorbeugen, und das Atmen schmerzte.
    Das kommt davon, wenn man den Helden spielen will, dachte er.
    Er fühlte sich, als hätte man ihm mit einem Knüppel auf Brust und Unterleib geschlagen.
    Warme Tropfen rannen von seinem rechten Ellbogen und beiden Knien.
    »Nicht«, hörte er. »Bitte.«
    Kein Aufschrei, eher ein schluchzendes Flehen.
    Es kam von irgendwo zwischen den Bäumen links über ihm.
    Er biss die Zähne zusammen und humpelte los, ohne die Stelle aus den Augen zu lassen. Er versuchte, leise zu sein.
    »Was gibst du mir?«, hörte er einen Mann sagen.
    »Alles. Bitte.«
    Ein leises Kichern. »Das habe ich mir schon gedacht.«
    »Ich will nicht sterben.«
    »Schön zu hören. Weißt du was? Ich will auch nicht, dass du stirbst. Zumindest nicht in den nächsten Stunden.« Erneutes Kichern.
    Ein scharfes, zischendes Einatmen.
    »Das hat nicht wehgetan, oder?«
    »Nein.« Bei dem traurigen und hilflosen Klang ihrer Stimme zog sich Neals Kehle zusammen.
    »Ah, zähes Luder«, sagte der Mann.
    Dann erklang ein Keuchen.
    »Oder doch nicht so zäh.«
    »Bitte.« Sie weinte.
    »Ahhh.«
    »Au!«
    »Tut’s weh?«
    »Bitte.«
    »Erzähl mir was.«
    »Was?«, schluchzte sie.
    »Sag, dass du eine dreckige, stinkende Schlampe bist.«
    »Ich bin eine dreckige, stinkende Schlampe.«
    »Du musst durch Schmerz geläutert werden.«
    »Ich muss … durch Schmerz geläutert werden.«
    »Ich bin deine Errettung.«
    »Du bist meine
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