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Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Titel: Der Fundamentalist, der keiner sein wollte
Autoren: Mohsin Hamed
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seit dem Tod meines Urgroßvaters nicht gedeihlich. Die Gehälter sind nicht entsprechend der Inflation gestiegen, die Rupie hat gegenüber dem Dollar stetig an Wert verloren, und diejenigen von uns, die einstmals beträchtliche Familiengüter besaßen, mussten mit ansehen, wie diese von jeder – größeren – nachfolgenden Generation immer weiter aufgeteilt wurden. Mein Großvater konnte sich daher nicht das leisten, was sein Vater sich leisten konnte, und mein Vater konnte sich nicht leisten, was sein Vater sich leisten konnte, und als die Zeit kam, mich an die Universität zu schicken, war das Geld dazu einfach nicht da.
    Doch wie in jeder traditionellen, klassenbewussten Gesellschaft sinkt der Status langsamer als der Reichtum. Wir sind also nach wie vor Mitglied im Punjab Club. Wir werden weiterhin zu den Empfängen, Hochzeiten und Partys der Elite der Stadt eingeladen. Und wir betrachten die aufsteigende Klasse der Unternehmer – der Inhaber legaler wie illegaler Geschäfte –, die in ihren neuen BMW-Geländewagen durch unsere Straßen brettern, mit einer Mischung aus Verachtung und Neid. Unsere Lage unterscheidet sich vielleicht nicht so sehr von jener der alten europäischen Aristokratie im neunzehnten Jahrhundert, die sich mit dem Aufstieg der Bourgeoisie konfrontiert sah. Nur dass wir natürlich Teil einer Malaise größeren Ausmaßes sind, die nicht nur die ehemals Reichen, sondern auch die ehemalige Mittelschicht befällt: die zunehmende Unfähigkeit, das zu kaufen, was wir früher einmal konnten.
    Angesichts dieser Realität hat man zwei Möglichkeiten: Man tut so, als wäre alles gut, oder arbeitet hart dafür, dass es wieder so wird, wie es einmal war. Ich wählte beides. In Princeton gab ich mich wie ein junger Prinz, großzügig und sorglos. Gleichzeitig aber hatte ich drei Jobs auf dem Campus – alle an weniger frequentierten Orten wie beispielsweise der Bibliothek des Studienprogramms Naher Osten – und bereitete mich nachts auf meine Seminare vor. Die meisten meiner Bekannten waren von meiner zur Schau getragenen Fassade eingenommen. Jim nicht. Doch zum Glück sah er da, wo ich Scham sah, Chancen. Und er war – in mancher Hinsicht, nicht in jeder, wie ich später erfahren sollte – korrekt.
    Ah, da kommt unser Tee! Schauen Sie doch nicht so argwöhnisch drein. Ich versichere Ihnen, Sir, dass Ihnen nichts Schlimmes widerfährt, nicht einmal Durchfall. Schließlich ist er ja nicht vergiftet. Kommen Sie, wenn es Sie beruhigt, tauschen wir die Tassen. So. Wie viel Zucker nehmen Sie? Keinen? Sehr ungewöhnlich, aber ich will Sie nicht drängen. Probieren Sie doch einmal diese klebrigen, orangefarbenen Süßigkeiten – Jalebis –, aber Vorsicht, sie sind scharf! Wie ich sehe, schmecken sie Ihnen. Ja, sie sind köstlich. Seltsam, wie erfrischend eine Tasse Tee selbst an einem warmen Tag wie diesem ist – eigentlich ein Wunder –, aber so ist es eben.
    Ich habe Ihnen von meinem Bewerbungsgespräch mit Underwood Samson erzählt und dass Jim mich, wie er es nannte, hungrig fand. Ich wartete ab, was er als Nächstes sagen würde, und was er als Nächstes sagte, war Folgendes: »Gut, Changez , dann wollen wir Sie mal testen. Ich gebe Ihnen einen Geschäftsvorgang, eine Firma, die Sie bewerten sollen. Sie können mich alles fragen, was Sie wissen müssen – denken Sie an ein Ratespiel –, und Ihre Berechnungen können Sie mit dem Bleistift und Papier hier machen. Fertig?« Ich bejahte, und er fuhr fort: »Ich werfe Ihnen einen kniffligen Ball zu. Sie brauchen jetzt ein bisschen Kreativität. Die Firma ist einfach. Sie hat nur einen Geschäftszweig: Blitz-Reisen. Man betritt ihren Terminal in New York und taucht gleich darauf in ihrem Terminal in
    London wieder auf. Wie ein Transporter in Star Trek. Alles klar? Schön. Dann los.«
    Nach außen hin dürfte ich in dem Moment wohl ruhig gewirkt haben, aber innerlich war ich in Panik. Wie bewertet man eine fiktive Fantasiefirma, wie er sie gerade beschrieben hatte? Wo fängt man da überhaupt an? Ich hatte keine Ahnung. Ich sah Jim an, doch für den war es offensichtlich kein Scherz. Also holte ich tief Luft und schloss die Augen. Als ich Fußball spielte, brachte ich mich immer in einen bestimmten Geisteszustand: Mein Ich verschwand, und ich war frei, frei von Zweifeln und Grenzen, frei, mich auf nichts als das Spiel zu konzentrieren. Wenn ich diesen Zustand erlangte, fühlte ich mich unaufhaltsam. Sufi-Mystiker und Zen-Meister würden das Gefühl
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