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Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Titel: Der Fundamentalist, der keiner sein wollte
Autoren: Mohsin Hamed
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noch?«
    Ich verstummte. Normalerweise plaudere ich, wie Sie bestimmt gemerkt haben, sehr gern, aber in dem Augenblick wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ich beobachtete ihn, wie er mich beobachtete, und versuchte zu verstehen, worauf er aus war. Er blickte auf meinen Lebenslauf, der zwischen uns auf dem Tisch lag, und dann wieder auf mich. Seine Augen waren kalt, ein helles Blau, und wertend , nicht so, wie man das Wort normalerweise benutzt, sondern in dem Sinn, dass er professionell taxierte, wie ein Juwelier, der sich aus reiner Neugier einen Diamanten ansieht, den er weder kaufen noch verkaufen will. Nachdem eine gewisse Zeit vergangen war – es mochte eine Minute gewesen sein, aber es fühlte sich länger an –, sagte er: »Erzählen Sie mir etwas. Woher kommen Sie?«
    Ich sagte, ich sei aus Lahore, der zweitgrößten Stadt Pakistans, der alten Hauptstadt des Punjab, wo fast so viele Menschen wohnen wie in New York, wo sich, ähnlich einer Sedimentebene, die Historie der Eindringlinge von den Ariern über die Mongolen bis zu den Briten in Schichten abgelagert habe. Er nickte lediglich. Dann sagte er: »Und erhalten Sie finanzielle Unterstützung?«
    Ich antwortete ihm nicht gleich. Ich wusste, dass es Themenbereiche gab, die diese Leute nicht anschneiden durften – Religion beispielsweise und sexuelle Orientierung –, und ich vermutete, dass finanzielle Unterstützung dazugehörte. Doch das war nicht der Grund meines Zögerns; ich zögerte, weil diese Frage bei mir Unbehagen erzeugte. Dann sagte ich »Ja«. »Und ist es«, fragte er, »für ausländische Studenten nicht schwieriger herzukommen, wenn sie Unterstützung beantragen?« Wieder sagte ich »Ja«. »Dann«, sagte er, »müssen Sie das Geld wirklich nötig gehabt haben.« Und zum dritten Mal sagte ich »Ja«.
    Jim lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander, genau wie Sie jetzt. Dann sagte er: »Sie sind gebildet, gut gekleidet. Sie haben so einen gehobenen Akzent. Die meisten Leute glauben vermutlich, Sie kommen aus einem reichen Elternhaus.« Das war keine Frage, also gab ich auch keine Antwort. »Wissen Ihre Freunde hier«, fuhr er fort, »dass Ihre Familie es sich nicht leisten konnte, Sie ohne Stipendium hierher nach Princeton zu schicken?«
    Es war, wie ich schon sagte, das wichtigste meiner Bewerbungsgespräche, und ich wusste auch, dass ich Ruhe bewahren sollte, doch nun ärgerte ich mich zunehmend, und ich hatte von dieser Fragerei die Nase voll. Also sagte ich: »Entschuldigen Sie, Jim, aber welchen Sinn hat das alles hier?« Das kam aggressiver raus, als ich es beabsichtigt hatte; meine Stimme wurde lauter und gewann an Schärfe. »Dann wissen sie es also nicht«, sagte Jim. Er lächelte und fuhr fort: »Sie haben Temperament. Das gefällt mir. Auch ich war in Princeton. Jahrgang 81. Summa cum laude .« Er zwinkerte. »Ich war aus meiner Familie der Erste, der ans College ging. Ich arbeitete Nachtschicht in Trenton, um das alles zu bezahlen, weit genug vom Campus entfernt, damit die Leute es nicht mitbekamen. Ich weiß also, wo Sie herkommen, Changez. Sie sind hungrig, und das finde ich gut.«
    Das brachte mich, wie ich gestehen muss, aus dem Konzept. Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Aber ich wusste sehr wohl, dass ich von Jim beeindruckt war; schließlich hatte er mich binnen weniger Minuten klarer durchschaut als viele, die mich seit Jahren kannten. Ich verstand, warum er bei Bewertungen so sicher war und warum seine Firma auf diesem Gebiet – folgerichtig – hohes Ansehen genoss. Auch freute ich mich, dass er in mir etwas entdeckte, was er wertschätzte, und so erholte sich mein Selbstvertrauen, das durch unser Treffen bis dahin erschüttert worden war, allmählich wieder.
    Es lohnt sich, wenn Sie gestatten, an dieser Stelle ein wenig abzuschweifen. Ich bin nicht arm, weit gefehlt: Mein Urgroßvater beispielsweise war Anwalt und verfügte über die Mittel, für die Muslime im Punjab eine Schule zu stiften. Wie er besuchten mein Großvater und auch mein Vater eine englische Universität. Unsere Familie besitzt ein Grundstück mitten in Gulberg, einem der teuersten Viertel der Stadt. Wir haben mehrere Hausangestellte, darunter einen Fahrer und einen Gärtner – was in Amerika hieße, dass unsere Familie sehr wohlhabend ist.
    Dennoch sind wir nicht reich. Die Männer und Frauen – ja, auch die Frauen – in meiner Familie arbeiten in gehobenen Berufen. Und für solche Leute war das halbe Jahrhundert
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